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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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sagen und Alles zu rügen, was ihm an den bestehenden Verhältnissen nicht
gefiel."

Zwar setzt er noch immer seine Thätigkeit als Dichter und Geschicht¬
schreiber fort, und eine seiner berühmtesten Tragödien, Tancred. gehört diesem
Zeitraum an. Allein schon in den Dichtungen, zumal der erzählenden Gat¬
tung, gewinnt das didaktische Element die Oberhand. Es sind jetzt die Zu-
stände von Recht, Staat und Kirche der damaligen Zeit und im Zusammen¬
hang damit theologische und philosophische Forschungen, die ihn vorzugsweise
beschäftigen. Seine Schriftstellerei wird mehr als je eine polemische, und da
es ihm um eine rasche und durchschlagende Wirkung zu thun war und er
sich der Gaben und Fertigkeiten mehr zum leichten Reitergefecht des Witzes
und der Satire, als zum schweren gelehrten Artilleriekampf bewußt war, so
nehmen seine Arbeiten zum großen Theil die Gestalt von Flugschriften an.
Einen wahren Wespenschwarm von Streit- und Spottschriften läßt er jetzt
von schweizerischen und holländischen Pressen aus in die Welt und insbesondere
nach Frankreich fliegen. Er ist der Mittelpunkt eines Kreises gleichgesinnter,
nach gleichen Zielen wirkender Männer, denen er die Losungsworte ertheilt.
In diese Zeit fällt endüch die rastlose Thätigkeit, die er für die Famlie Colas.
für die Familie Sirven, für eine Reihe anderer Opfer des religiösen Fanatis¬
mus und einer verrotteten Rechtspflege entwickelt, lauter Fälle, welche in
dem Spötter zugleich einen ernsten Sinn und ein warmes Herz zeigen.

Ein ernster Sinn läßt sich aber auch Voltaire, dem Philosophen, nicht
absprechen. In das Scherzen und Spotten verfällt er in der Regel nur,
wenn er es mit menschlichem Dünkel zu thun hat, der sich einbildet, die end¬
losen Probleme des Denkens endgiltig gelöst zu haben. Es war ihm wirklich
darum zu thun, über die letzten Zwecke des Daseins sich selbst zu verständigen.
Die großen Fragen nach der Existenz Gottes, nach der Natur und Bestim¬
mung des Menschen, der Freiheit des menschlichen Willens, der Unsterblichkeit
der Seele haben ihn lebenslänglich und ernsthaft umgetrieben. Originell ist
er als Philosoph allerdings nicht, sondern in der Hauptsache Bearbeiter
englischer Forschungen; dabei erweist er sich aber, wie Strauß sagt, durchaus
als freier Meister des Stoffs, den er mit unvergleichlicher Gewandtheit von
allen Seiten zu zeigen, in alle möglichen Beleuchtungen zu stellen und dadurch,
ohne streng methodisch zu sein, auch den Forderungen der Gründlichkeit zu
genügen weiß. Es ist sehr bezeichnend, daß ihn ein bestimmtes erschütterndes
Ereigniß, das Erdbeben von Lissabon am 1. Nov. 1753 ganz besonders be¬
schäftigte; in Gedichten, Romanen und Tractaten kommt er auf das fürchter¬
liche Unglück zurück, um daran seine Betrachtungen anzuknüpfen, wie das


sagen und Alles zu rügen, was ihm an den bestehenden Verhältnissen nicht
gefiel."

Zwar setzt er noch immer seine Thätigkeit als Dichter und Geschicht¬
schreiber fort, und eine seiner berühmtesten Tragödien, Tancred. gehört diesem
Zeitraum an. Allein schon in den Dichtungen, zumal der erzählenden Gat¬
tung, gewinnt das didaktische Element die Oberhand. Es sind jetzt die Zu-
stände von Recht, Staat und Kirche der damaligen Zeit und im Zusammen¬
hang damit theologische und philosophische Forschungen, die ihn vorzugsweise
beschäftigen. Seine Schriftstellerei wird mehr als je eine polemische, und da
es ihm um eine rasche und durchschlagende Wirkung zu thun war und er
sich der Gaben und Fertigkeiten mehr zum leichten Reitergefecht des Witzes
und der Satire, als zum schweren gelehrten Artilleriekampf bewußt war, so
nehmen seine Arbeiten zum großen Theil die Gestalt von Flugschriften an.
Einen wahren Wespenschwarm von Streit- und Spottschriften läßt er jetzt
von schweizerischen und holländischen Pressen aus in die Welt und insbesondere
nach Frankreich fliegen. Er ist der Mittelpunkt eines Kreises gleichgesinnter,
nach gleichen Zielen wirkender Männer, denen er die Losungsworte ertheilt.
In diese Zeit fällt endüch die rastlose Thätigkeit, die er für die Famlie Colas.
für die Familie Sirven, für eine Reihe anderer Opfer des religiösen Fanatis¬
mus und einer verrotteten Rechtspflege entwickelt, lauter Fälle, welche in
dem Spötter zugleich einen ernsten Sinn und ein warmes Herz zeigen.

Ein ernster Sinn läßt sich aber auch Voltaire, dem Philosophen, nicht
absprechen. In das Scherzen und Spotten verfällt er in der Regel nur,
wenn er es mit menschlichem Dünkel zu thun hat, der sich einbildet, die end¬
losen Probleme des Denkens endgiltig gelöst zu haben. Es war ihm wirklich
darum zu thun, über die letzten Zwecke des Daseins sich selbst zu verständigen.
Die großen Fragen nach der Existenz Gottes, nach der Natur und Bestim¬
mung des Menschen, der Freiheit des menschlichen Willens, der Unsterblichkeit
der Seele haben ihn lebenslänglich und ernsthaft umgetrieben. Originell ist
er als Philosoph allerdings nicht, sondern in der Hauptsache Bearbeiter
englischer Forschungen; dabei erweist er sich aber, wie Strauß sagt, durchaus
als freier Meister des Stoffs, den er mit unvergleichlicher Gewandtheit von
allen Seiten zu zeigen, in alle möglichen Beleuchtungen zu stellen und dadurch,
ohne streng methodisch zu sein, auch den Forderungen der Gründlichkeit zu
genügen weiß. Es ist sehr bezeichnend, daß ihn ein bestimmtes erschütterndes
Ereigniß, das Erdbeben von Lissabon am 1. Nov. 1753 ganz besonders be¬
schäftigte; in Gedichten, Romanen und Tractaten kommt er auf das fürchter¬
liche Unglück zurück, um daran seine Betrachtungen anzuknüpfen, wie das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/164>, abgerufen am 17.06.2024.