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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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durch Jesus oder einen anderen darbringen, wenn wir nur rechtschaffen find.
Die Religion besteht doch sicherlich in der Tugend und nicht in dem unge-
reimten Plunder der Theologie. Die Moral kommt von Gott und ist überall
dieselbe; die Theologie kommt von den Menschen und ist überall anders und
überall lächerlich. Die Anbetung eines Gottes. der bestraft und belohnt,
vereinigt alle Menschen; die verruchte und verächtliche Theologie entzweit
sie . . . Noch einmal: beten wir Gott durch Jesus an, wenn es sein muß,
wenn die Unwissenheit so groß ist, daß dieses jüdische Wort noch ausgesprochen
werden soll; aber es sei nicht mehr das Losungswort für Raub und Mord."
Eine charakteristische Probe von Voltaire's satirischer Behandlung theologi¬
scher Dinge gibt Strauß, indem er im Anhang eine Uebersetzung des witzi¬
gen Gesprächs: "das Mittagsmahl des Grafen von Boulainvilliers" mittheilt.

Diese philosophischen und theologischen Ansichten Voltaire's sind nicht
mehr diejenigen der Gegenwart, oder genauer: sie enthalten auch für uns
Wahrheit, aber sie sind uns nur ein Theil, nur die eine Seite der Wahrheit.
Herzlich aber empfinden wir mit, wenn Voltaire, dem innersten Geist seines
Zeitalters Worte leidend, der Fortschritte der Civilisation sich freut, die er
mit erleben, mit befördern durfte. "Segnen wir die glückliche Revolution",
schreibt er im Jahre 1767 an d'Alembert, "die sich im Laufe der letzten
Is--20 Jahre in den Geistern vollzogen hat; sie hat meine Erwartungen
übertroffen." Und ein andermal im gleichen Jahr an denselben: "Bei Gott,
das Zeitalter der Vernunft ist angebrochen. O Natur, ewiger Dank sei dir
gesagt!" Fast überall jedoch, wo Voltaire seine Freude über diesen Umschwung
äußert, fügt er eine höchst bezeichnende Beschränkung hinzu. "Wir müssen
zufrieden sein," schreibt er um die gleiche Zeit an denselben, "mit der Ver¬
achtung, worein die Infame bei allen anständigen Leuten in Europa gefallen
ist. Das war alles, was man haben wollte und was nöthig war. Man
hat nie den Anspruch gemacht, Schuster und Mägde aufzuklären; das ist Sache
der Apostel." Oder wenn er einmal zwei Jahre später schreibt: "Wir wer¬
den bald einen neuen Himmel und eine neue Erde haben; ich meine, für die
anständigen Leute; denn was das Pack betrifft, so ist der dümmste Himmel
und die dümmste Erde gerade das. was sie brauchen." Anständige Leute
und Pack, das sind die beiden Menschenklassen, zwischen denen nach Voltaire
eine unübersteigliche Kluft befestigt ist, sodaß nur die einen zum Lichte der
Aufklärung berufen, die anderen zu bleibender Nacht und Dummheit ver¬
dammt sind.

Dem entsprach auch die politische Denkart Voltaire's durchaus. Er war
kein Demokrat und so wenig wie in der Philosophie, huldigte er in der Po¬
litik radicalen Ansichten. Bei der Bekämpfung der Hierarchie, die ihm immer


durch Jesus oder einen anderen darbringen, wenn wir nur rechtschaffen find.
Die Religion besteht doch sicherlich in der Tugend und nicht in dem unge-
reimten Plunder der Theologie. Die Moral kommt von Gott und ist überall
dieselbe; die Theologie kommt von den Menschen und ist überall anders und
überall lächerlich. Die Anbetung eines Gottes. der bestraft und belohnt,
vereinigt alle Menschen; die verruchte und verächtliche Theologie entzweit
sie . . . Noch einmal: beten wir Gott durch Jesus an, wenn es sein muß,
wenn die Unwissenheit so groß ist, daß dieses jüdische Wort noch ausgesprochen
werden soll; aber es sei nicht mehr das Losungswort für Raub und Mord."
Eine charakteristische Probe von Voltaire's satirischer Behandlung theologi¬
scher Dinge gibt Strauß, indem er im Anhang eine Uebersetzung des witzi¬
gen Gesprächs: „das Mittagsmahl des Grafen von Boulainvilliers" mittheilt.

Diese philosophischen und theologischen Ansichten Voltaire's sind nicht
mehr diejenigen der Gegenwart, oder genauer: sie enthalten auch für uns
Wahrheit, aber sie sind uns nur ein Theil, nur die eine Seite der Wahrheit.
Herzlich aber empfinden wir mit, wenn Voltaire, dem innersten Geist seines
Zeitalters Worte leidend, der Fortschritte der Civilisation sich freut, die er
mit erleben, mit befördern durfte. „Segnen wir die glückliche Revolution",
schreibt er im Jahre 1767 an d'Alembert, „die sich im Laufe der letzten
Is—20 Jahre in den Geistern vollzogen hat; sie hat meine Erwartungen
übertroffen." Und ein andermal im gleichen Jahr an denselben: „Bei Gott,
das Zeitalter der Vernunft ist angebrochen. O Natur, ewiger Dank sei dir
gesagt!" Fast überall jedoch, wo Voltaire seine Freude über diesen Umschwung
äußert, fügt er eine höchst bezeichnende Beschränkung hinzu. „Wir müssen
zufrieden sein," schreibt er um die gleiche Zeit an denselben, „mit der Ver¬
achtung, worein die Infame bei allen anständigen Leuten in Europa gefallen
ist. Das war alles, was man haben wollte und was nöthig war. Man
hat nie den Anspruch gemacht, Schuster und Mägde aufzuklären; das ist Sache
der Apostel." Oder wenn er einmal zwei Jahre später schreibt: „Wir wer¬
den bald einen neuen Himmel und eine neue Erde haben; ich meine, für die
anständigen Leute; denn was das Pack betrifft, so ist der dümmste Himmel
und die dümmste Erde gerade das. was sie brauchen." Anständige Leute
und Pack, das sind die beiden Menschenklassen, zwischen denen nach Voltaire
eine unübersteigliche Kluft befestigt ist, sodaß nur die einen zum Lichte der
Aufklärung berufen, die anderen zu bleibender Nacht und Dummheit ver¬
dammt sind.

Dem entsprach auch die politische Denkart Voltaire's durchaus. Er war
kein Demokrat und so wenig wie in der Philosophie, huldigte er in der Po¬
litik radicalen Ansichten. Bei der Bekämpfung der Hierarchie, die ihm immer


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[0166] durch Jesus oder einen anderen darbringen, wenn wir nur rechtschaffen find. Die Religion besteht doch sicherlich in der Tugend und nicht in dem unge- reimten Plunder der Theologie. Die Moral kommt von Gott und ist überall dieselbe; die Theologie kommt von den Menschen und ist überall anders und überall lächerlich. Die Anbetung eines Gottes. der bestraft und belohnt, vereinigt alle Menschen; die verruchte und verächtliche Theologie entzweit sie . . . Noch einmal: beten wir Gott durch Jesus an, wenn es sein muß, wenn die Unwissenheit so groß ist, daß dieses jüdische Wort noch ausgesprochen werden soll; aber es sei nicht mehr das Losungswort für Raub und Mord." Eine charakteristische Probe von Voltaire's satirischer Behandlung theologi¬ scher Dinge gibt Strauß, indem er im Anhang eine Uebersetzung des witzi¬ gen Gesprächs: „das Mittagsmahl des Grafen von Boulainvilliers" mittheilt. Diese philosophischen und theologischen Ansichten Voltaire's sind nicht mehr diejenigen der Gegenwart, oder genauer: sie enthalten auch für uns Wahrheit, aber sie sind uns nur ein Theil, nur die eine Seite der Wahrheit. Herzlich aber empfinden wir mit, wenn Voltaire, dem innersten Geist seines Zeitalters Worte leidend, der Fortschritte der Civilisation sich freut, die er mit erleben, mit befördern durfte. „Segnen wir die glückliche Revolution", schreibt er im Jahre 1767 an d'Alembert, „die sich im Laufe der letzten Is—20 Jahre in den Geistern vollzogen hat; sie hat meine Erwartungen übertroffen." Und ein andermal im gleichen Jahr an denselben: „Bei Gott, das Zeitalter der Vernunft ist angebrochen. O Natur, ewiger Dank sei dir gesagt!" Fast überall jedoch, wo Voltaire seine Freude über diesen Umschwung äußert, fügt er eine höchst bezeichnende Beschränkung hinzu. „Wir müssen zufrieden sein," schreibt er um die gleiche Zeit an denselben, „mit der Ver¬ achtung, worein die Infame bei allen anständigen Leuten in Europa gefallen ist. Das war alles, was man haben wollte und was nöthig war. Man hat nie den Anspruch gemacht, Schuster und Mägde aufzuklären; das ist Sache der Apostel." Oder wenn er einmal zwei Jahre später schreibt: „Wir wer¬ den bald einen neuen Himmel und eine neue Erde haben; ich meine, für die anständigen Leute; denn was das Pack betrifft, so ist der dümmste Himmel und die dümmste Erde gerade das. was sie brauchen." Anständige Leute und Pack, das sind die beiden Menschenklassen, zwischen denen nach Voltaire eine unübersteigliche Kluft befestigt ist, sodaß nur die einen zum Lichte der Aufklärung berufen, die anderen zu bleibender Nacht und Dummheit ver¬ dammt sind. Dem entsprach auch die politische Denkart Voltaire's durchaus. Er war kein Demokrat und so wenig wie in der Philosophie, huldigte er in der Po¬ litik radicalen Ansichten. Bei der Bekämpfung der Hierarchie, die ihm immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/166>, abgerufen am 17.06.2024.