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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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großen Theil abhängig von dem Range, den er persönlich unter den Sou¬
veränen Europas einnahm, und insofern war die Titel- und Erblichkeitsfrage
wirklich eine Machtfrage für Frankreich geworden.

Für Napoleon aber war wiederum die Machtfrage eine Lebensfrage.
Er war darüber vollständig mit sich im Klaren, daß er den Franzosen
für den Verlust der Freiheit und der Mitwirkung an der Behandlung der
inneren Angelegenheiten eine Entschädigung durch keckes Eingreifen in die
Welthändel bieten mußte. Denn zum politischen Stillleben läßt sich der
Franzose nicht auf die Länge verdammen; er liebt die Bewegung, die Un¬
ruhe, die Aufregung um ihrer selbst willen; der Staat ist ihm eine Schau¬
bühne, auf der er selbst agiren will, und wer ihm die Staatsbühne ver¬
schließen will, der muß ihm eine andere Bühne eröffnen, die Börsencoulissen,
die Jockeyclubs, die Boudoirs und die Salons der Demimonde (die vornehmen
Salons alten Styls waren dem zweiten Empire ebenso verhaßt und ver¬
dächtig wie dem ersten), und wenn eine Uebersättigung in der Jagd nach
Gewinn und Lust eingetreten ist, die große Weltbühne. Und Napoleon vor
Allen, der Emporkömmling, der durch seine unablässig gegen die auswärtige
Politik des Bürgerkönigthums geschleuderten Anklagen die Erwartungen der
Franzosen aufs höchste gespannt hatte, bedürfte des Prestiges, um seinen
Thron fest in der öffentlichen Meinung zu gründen: er mußte die erste Stelle
in Europa einnehmen, um die erste Stellung in Frankreich zu behaupten.

Zur Orientirung über seine innere Politik, die wir zuerst überblicken
müssen, bietet besonders der zweite Theil des Werkes von Tarile Delord,
der die Geschichte des Kaiserthums bis zum Jahre 1860 fortführt, Material
in Fülle. Der Verfasser hat in Bezug auf Reichhaltigkeit des Guten fast
zu viel gethan. Eine strengere Sichtung und Verarbeitung der Einzelheiten
zu großen Gesammtbildern wäre wünschenswerth gewesen. Für französische
Leser hat die Masse des Details freilich in sofern größeres Interesse, als sie
grelle Schlaglichter auf zahlreiche Persönlichkeiten wirft, die, in ihrer Mehr¬
zahl mit keiner irgendwie hervorragenden Eigenschaft ausgestattet, in der
Verwaltung oder auch in der Opposition eine gewisse Rolle gespielt haben,
und auch zum Theil noch spielen. Aber den Nichtfranzosen erscheinen diese by¬
zantinisch-geschmacklosen Kammerherrn, diese servilen Senatoren, chauvinisti¬
schen Abgeordneten, kurzsichtigen und wortreichen Demagogen meist als höchst
langweilige und unbedeutende Persönlichkeiten, die für den Mangel an Kraft
und Tüchtigkeit nicht einmal durch einen Anflug von altfranzösischen Es¬
prit entschädigen. Denn auch der Esprit ist regulirt, und wer es zu einer
gut stylisirten Paraphrase irgend einer bürgerlichen Phrase bringt, wer in
einer Kammerrede von dem berühmten I'emxire e'est ig, Mix eine gelungene
Anwendung zu machen weiß, der ist der kaiserlichen Gnade und eines be-


großen Theil abhängig von dem Range, den er persönlich unter den Sou¬
veränen Europas einnahm, und insofern war die Titel- und Erblichkeitsfrage
wirklich eine Machtfrage für Frankreich geworden.

Für Napoleon aber war wiederum die Machtfrage eine Lebensfrage.
Er war darüber vollständig mit sich im Klaren, daß er den Franzosen
für den Verlust der Freiheit und der Mitwirkung an der Behandlung der
inneren Angelegenheiten eine Entschädigung durch keckes Eingreifen in die
Welthändel bieten mußte. Denn zum politischen Stillleben läßt sich der
Franzose nicht auf die Länge verdammen; er liebt die Bewegung, die Un¬
ruhe, die Aufregung um ihrer selbst willen; der Staat ist ihm eine Schau¬
bühne, auf der er selbst agiren will, und wer ihm die Staatsbühne ver¬
schließen will, der muß ihm eine andere Bühne eröffnen, die Börsencoulissen,
die Jockeyclubs, die Boudoirs und die Salons der Demimonde (die vornehmen
Salons alten Styls waren dem zweiten Empire ebenso verhaßt und ver¬
dächtig wie dem ersten), und wenn eine Uebersättigung in der Jagd nach
Gewinn und Lust eingetreten ist, die große Weltbühne. Und Napoleon vor
Allen, der Emporkömmling, der durch seine unablässig gegen die auswärtige
Politik des Bürgerkönigthums geschleuderten Anklagen die Erwartungen der
Franzosen aufs höchste gespannt hatte, bedürfte des Prestiges, um seinen
Thron fest in der öffentlichen Meinung zu gründen: er mußte die erste Stelle
in Europa einnehmen, um die erste Stellung in Frankreich zu behaupten.

Zur Orientirung über seine innere Politik, die wir zuerst überblicken
müssen, bietet besonders der zweite Theil des Werkes von Tarile Delord,
der die Geschichte des Kaiserthums bis zum Jahre 1860 fortführt, Material
in Fülle. Der Verfasser hat in Bezug auf Reichhaltigkeit des Guten fast
zu viel gethan. Eine strengere Sichtung und Verarbeitung der Einzelheiten
zu großen Gesammtbildern wäre wünschenswerth gewesen. Für französische
Leser hat die Masse des Details freilich in sofern größeres Interesse, als sie
grelle Schlaglichter auf zahlreiche Persönlichkeiten wirft, die, in ihrer Mehr¬
zahl mit keiner irgendwie hervorragenden Eigenschaft ausgestattet, in der
Verwaltung oder auch in der Opposition eine gewisse Rolle gespielt haben,
und auch zum Theil noch spielen. Aber den Nichtfranzosen erscheinen diese by¬
zantinisch-geschmacklosen Kammerherrn, diese servilen Senatoren, chauvinisti¬
schen Abgeordneten, kurzsichtigen und wortreichen Demagogen meist als höchst
langweilige und unbedeutende Persönlichkeiten, die für den Mangel an Kraft
und Tüchtigkeit nicht einmal durch einen Anflug von altfranzösischen Es¬
prit entschädigen. Denn auch der Esprit ist regulirt, und wer es zu einer
gut stylisirten Paraphrase irgend einer bürgerlichen Phrase bringt, wer in
einer Kammerrede von dem berühmten I'emxire e'est ig, Mix eine gelungene
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/191>, abgerufen am 17.06.2024.