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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Man würde das Wesen des Bonapartismus verkennen, wenn man
glaubte, die Regierung wäre damit zufrieden gewesen, ergebene Abgeord¬
nete aus der Wahlurne hervorgehen zu sehen. Auch der Ergebenste hat seine
Ansichten, seine Launen, vielleicht sogar seinen Willen. Ist er von einer gou-
vernementalen Partei getragen, so ist er dieser Partei gewisse Rücksichten
schuldig; die Regierung kann ihr Programm verändern, sie kann jeden Tag
die Grundsätze verleugnen, die sie am Tage der Wahl ausgesprochen hat.
Wie dann, wenn der Abgeordnete in dem Bewußtsein, an der Partei einen
Rückhalt zu finden, seinen Grundsätzen treu bleibt. Dann wäre das auto-
kratische Princip gefährdet, es würde durch die eigenen Anhänger in Frage
gestellt werden.

Bewährte Ergebenheit, begeisterte Anhänglichkeit an den Kaiser und sein
Regime verlangt der Bonapartismus von jedem Franzosen -- von den Ab¬
geordneten verlangt er vor Allem Abhängigkeit, unbedingte und willen¬
lose Abhängigkeit. Vermöge der Fiction, daß die wahre öffentliche Meinung
sich unter allen Umständen in der Regierung, oder vielmehr in dem Willen
des Kaisers concentrirt, kann der Wähler nur dadurch vor Irrthümern und
gefährlichen Mißgriffen bewahrt und den Forderungen der wahren d. h. der
officiellen öffentlichen Meinung gerecht werden, daß er seine Stimme denjeni¬
gen Personen zuwendet, die ihm von der Regierung selbst vorgestellt und
empfohlen werden. Die officiellen Candidaturen sind also keineswegs
eine willkürliche Uebertreibung des bonapartistischen Systems, sondern die
nothwendige Consequenz desselben.

Schon in den constitutionellen Zeiten gingen die Ansprüche der Regie¬
rung an den Gehorsam der ihr befreundeten Partei, wenn auch zwischen dem
Ministerium und den ministeriellen Parteien immer eine gewisse Wechsel¬
wirkung sich geltend machte, doch weit über das Maß dessen hinaus, was
bei uns als erträglich gilt; und demgemäß war es ganz natürlich, daß schon
die Restauration und das Julikönigthum, um zuverlässige und verpflichtete
Personen in die Kammer zu befördern, die Mitwirkung der Präfectur bei
den Wahlen ungebührlich in Anspruch nahmen: das ist nun einmal von dem
französischen Staatsprincip unzertrennlich; nur bediente die Regierung sich
früher vorzugsweise der indirecten Mittel, der Imperialismus aber scheute sich
auch hier nicht, die Consequenzen des allein seligmachenden Staatsprincips
zu ziehen, und erklärte mit vollster Offenheit die officiellen Candidaturen,
vermöge deren die Abgeordneten zu Beamten degradirt werden, die das Volk
auf den Vorschlag des Kaisers ernennt, für ein nothwendiges Institut. Sehr
richtig sagt Taxile Delord, daß das System der officiellen Kandidaturen nicht
in die (kaiserliche) Verfassung ausdrücklich aufgenommen sei; aber sie macht
sie allein möglich.


Man würde das Wesen des Bonapartismus verkennen, wenn man
glaubte, die Regierung wäre damit zufrieden gewesen, ergebene Abgeord¬
nete aus der Wahlurne hervorgehen zu sehen. Auch der Ergebenste hat seine
Ansichten, seine Launen, vielleicht sogar seinen Willen. Ist er von einer gou-
vernementalen Partei getragen, so ist er dieser Partei gewisse Rücksichten
schuldig; die Regierung kann ihr Programm verändern, sie kann jeden Tag
die Grundsätze verleugnen, die sie am Tage der Wahl ausgesprochen hat.
Wie dann, wenn der Abgeordnete in dem Bewußtsein, an der Partei einen
Rückhalt zu finden, seinen Grundsätzen treu bleibt. Dann wäre das auto-
kratische Princip gefährdet, es würde durch die eigenen Anhänger in Frage
gestellt werden.

Bewährte Ergebenheit, begeisterte Anhänglichkeit an den Kaiser und sein
Regime verlangt der Bonapartismus von jedem Franzosen — von den Ab¬
geordneten verlangt er vor Allem Abhängigkeit, unbedingte und willen¬
lose Abhängigkeit. Vermöge der Fiction, daß die wahre öffentliche Meinung
sich unter allen Umständen in der Regierung, oder vielmehr in dem Willen
des Kaisers concentrirt, kann der Wähler nur dadurch vor Irrthümern und
gefährlichen Mißgriffen bewahrt und den Forderungen der wahren d. h. der
officiellen öffentlichen Meinung gerecht werden, daß er seine Stimme denjeni¬
gen Personen zuwendet, die ihm von der Regierung selbst vorgestellt und
empfohlen werden. Die officiellen Candidaturen sind also keineswegs
eine willkürliche Uebertreibung des bonapartistischen Systems, sondern die
nothwendige Consequenz desselben.

Schon in den constitutionellen Zeiten gingen die Ansprüche der Regie¬
rung an den Gehorsam der ihr befreundeten Partei, wenn auch zwischen dem
Ministerium und den ministeriellen Parteien immer eine gewisse Wechsel¬
wirkung sich geltend machte, doch weit über das Maß dessen hinaus, was
bei uns als erträglich gilt; und demgemäß war es ganz natürlich, daß schon
die Restauration und das Julikönigthum, um zuverlässige und verpflichtete
Personen in die Kammer zu befördern, die Mitwirkung der Präfectur bei
den Wahlen ungebührlich in Anspruch nahmen: das ist nun einmal von dem
französischen Staatsprincip unzertrennlich; nur bediente die Regierung sich
früher vorzugsweise der indirecten Mittel, der Imperialismus aber scheute sich
auch hier nicht, die Consequenzen des allein seligmachenden Staatsprincips
zu ziehen, und erklärte mit vollster Offenheit die officiellen Candidaturen,
vermöge deren die Abgeordneten zu Beamten degradirt werden, die das Volk
auf den Vorschlag des Kaisers ernennt, für ein nothwendiges Institut. Sehr
richtig sagt Taxile Delord, daß das System der officiellen Kandidaturen nicht
in die (kaiserliche) Verfassung ausdrücklich aufgenommen sei; aber sie macht
sie allein möglich.


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[0195] Man würde das Wesen des Bonapartismus verkennen, wenn man glaubte, die Regierung wäre damit zufrieden gewesen, ergebene Abgeord¬ nete aus der Wahlurne hervorgehen zu sehen. Auch der Ergebenste hat seine Ansichten, seine Launen, vielleicht sogar seinen Willen. Ist er von einer gou- vernementalen Partei getragen, so ist er dieser Partei gewisse Rücksichten schuldig; die Regierung kann ihr Programm verändern, sie kann jeden Tag die Grundsätze verleugnen, die sie am Tage der Wahl ausgesprochen hat. Wie dann, wenn der Abgeordnete in dem Bewußtsein, an der Partei einen Rückhalt zu finden, seinen Grundsätzen treu bleibt. Dann wäre das auto- kratische Princip gefährdet, es würde durch die eigenen Anhänger in Frage gestellt werden. Bewährte Ergebenheit, begeisterte Anhänglichkeit an den Kaiser und sein Regime verlangt der Bonapartismus von jedem Franzosen — von den Ab¬ geordneten verlangt er vor Allem Abhängigkeit, unbedingte und willen¬ lose Abhängigkeit. Vermöge der Fiction, daß die wahre öffentliche Meinung sich unter allen Umständen in der Regierung, oder vielmehr in dem Willen des Kaisers concentrirt, kann der Wähler nur dadurch vor Irrthümern und gefährlichen Mißgriffen bewahrt und den Forderungen der wahren d. h. der officiellen öffentlichen Meinung gerecht werden, daß er seine Stimme denjeni¬ gen Personen zuwendet, die ihm von der Regierung selbst vorgestellt und empfohlen werden. Die officiellen Candidaturen sind also keineswegs eine willkürliche Uebertreibung des bonapartistischen Systems, sondern die nothwendige Consequenz desselben. Schon in den constitutionellen Zeiten gingen die Ansprüche der Regie¬ rung an den Gehorsam der ihr befreundeten Partei, wenn auch zwischen dem Ministerium und den ministeriellen Parteien immer eine gewisse Wechsel¬ wirkung sich geltend machte, doch weit über das Maß dessen hinaus, was bei uns als erträglich gilt; und demgemäß war es ganz natürlich, daß schon die Restauration und das Julikönigthum, um zuverlässige und verpflichtete Personen in die Kammer zu befördern, die Mitwirkung der Präfectur bei den Wahlen ungebührlich in Anspruch nahmen: das ist nun einmal von dem französischen Staatsprincip unzertrennlich; nur bediente die Regierung sich früher vorzugsweise der indirecten Mittel, der Imperialismus aber scheute sich auch hier nicht, die Consequenzen des allein seligmachenden Staatsprincips zu ziehen, und erklärte mit vollster Offenheit die officiellen Candidaturen, vermöge deren die Abgeordneten zu Beamten degradirt werden, die das Volk auf den Vorschlag des Kaisers ernennt, für ein nothwendiges Institut. Sehr richtig sagt Taxile Delord, daß das System der officiellen Kandidaturen nicht in die (kaiserliche) Verfassung ausdrücklich aufgenommen sei; aber sie macht sie allein möglich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/195>, abgerufen am 17.06.2024.