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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Kaisers in der officiellen Zeitung abgedruckt, worin man im Publikum einen
neuen Beweis des herzlichen Einverständnisses zwischen den beiden Monarchen
erkennen mußte.

An den neuesten Besuch des Kaisers in Berlin knüpfen sich die ver-
schiedensten Combinationen und über dessen Erfolge die ausgedehntesten Ver¬
muthungen. Man hält es nicht für unwahrscheinlich, daß der Kaiser sich
mehr und mehr mit der Idee befreundet habe, ein geeintes Deutschland unter
der Führung Preußens als willkommenen Nachbar anzuerkennen, um freie
Hand zur Ausführung seiner Absichten in den slavischen Provinzen und auf
der Balkanhalbinsel zu bekommen. Möglich, daß diese Angelegenheiten bet
der im Laufe dieses Jahres nach der Rückkehr des Kaisers aus Deutschland
zu erwartenden Familienzusammenkunft, zu welcher sich auch auf einen Monat
der Prinz und die Prinzessin von Wales nach Petersburg begeben wollen,
bestimmte Facon bekommen.

Seit der Thronbesteigung des Kaisers scheint sich in dessen Anschauungen
mancherlei geändert zu haben. Wie sehr namentlich im Anfange seiner Re¬
gierung Alexander II. darauf bedacht war. das Volk in der Kultur zu heben
und dadurch die Lage des Landes zu verbessern und dem Wohlstande auf¬
zuhelfen, das zeigten seine Reformpläne und die beabsichtigte vollständige
Bauernemancipation. Aber es scheint, als habe seit dem Tode seines ältesten
Sohnes eine tiefgehende Veränderung stattgefunden. Man glaubt, daß sich
der Kaiser seit mehreren Jahren wieder der altrussischen Partei genähert habe,
die ihm in früherer Zeit oft und vielfach Widerspruch entgegengesetzt hat.
Der zweite, jetzt älteste Sohn und Thronfolger, ist, wie man allgemein be¬
hauptet, der altrussischen Partei vollständig zugethan. Der Unterschied
zwischen ihm und seinem Vater läßt sich aus den Berichten über eine Audienz
des Herrn von Gervais. Curators im Dorpater Lehrbezirk, beim Kaiser und
beim Thronfolger ganz gut erkennen. Ueber die Deutschen im Allgemeinen
habe sich der Kaiser dahin ausgesprochen, daß er eine gewaltsame Unter¬
drückung ihrer Eigenthümlichkeiten durchaus nicht wünsche; er sowohl wie
sein Vater hätten unter den Deutschen die zuverlässigsten und ergebensten
Stützen der Regierung gefunden. Was die Kenntniß des Russischen betreffe,
so sei darauf zu halten, daß die Abiturienten der Gymnasien desselben voll¬
ständig mächtig seien; an der Universität Dorpat neu anzustellende Professoren
sollten ebenfalls das Russische wenigstens einigermaßen verstehen, oder wenn
sie Ausländer sind, sich bemühen, die Sprache nachträglich zu erlernen. Da¬
gegen solle eine nachträgliche Erlernung der russischen Sprache von bereits
angestellten Professoren durchaus nicht verlangt werden. Ganz anders scheint
sich jedoch der Thronfolger ausgesprochen zu haben; die Ausdrücke desselben
über die Deutschen waren -- wie der Bericht sagt -- "so arg, daß man


Kaisers in der officiellen Zeitung abgedruckt, worin man im Publikum einen
neuen Beweis des herzlichen Einverständnisses zwischen den beiden Monarchen
erkennen mußte.

An den neuesten Besuch des Kaisers in Berlin knüpfen sich die ver-
schiedensten Combinationen und über dessen Erfolge die ausgedehntesten Ver¬
muthungen. Man hält es nicht für unwahrscheinlich, daß der Kaiser sich
mehr und mehr mit der Idee befreundet habe, ein geeintes Deutschland unter
der Führung Preußens als willkommenen Nachbar anzuerkennen, um freie
Hand zur Ausführung seiner Absichten in den slavischen Provinzen und auf
der Balkanhalbinsel zu bekommen. Möglich, daß diese Angelegenheiten bet
der im Laufe dieses Jahres nach der Rückkehr des Kaisers aus Deutschland
zu erwartenden Familienzusammenkunft, zu welcher sich auch auf einen Monat
der Prinz und die Prinzessin von Wales nach Petersburg begeben wollen,
bestimmte Facon bekommen.

Seit der Thronbesteigung des Kaisers scheint sich in dessen Anschauungen
mancherlei geändert zu haben. Wie sehr namentlich im Anfange seiner Re¬
gierung Alexander II. darauf bedacht war. das Volk in der Kultur zu heben
und dadurch die Lage des Landes zu verbessern und dem Wohlstande auf¬
zuhelfen, das zeigten seine Reformpläne und die beabsichtigte vollständige
Bauernemancipation. Aber es scheint, als habe seit dem Tode seines ältesten
Sohnes eine tiefgehende Veränderung stattgefunden. Man glaubt, daß sich
der Kaiser seit mehreren Jahren wieder der altrussischen Partei genähert habe,
die ihm in früherer Zeit oft und vielfach Widerspruch entgegengesetzt hat.
Der zweite, jetzt älteste Sohn und Thronfolger, ist, wie man allgemein be¬
hauptet, der altrussischen Partei vollständig zugethan. Der Unterschied
zwischen ihm und seinem Vater läßt sich aus den Berichten über eine Audienz
des Herrn von Gervais. Curators im Dorpater Lehrbezirk, beim Kaiser und
beim Thronfolger ganz gut erkennen. Ueber die Deutschen im Allgemeinen
habe sich der Kaiser dahin ausgesprochen, daß er eine gewaltsame Unter¬
drückung ihrer Eigenthümlichkeiten durchaus nicht wünsche; er sowohl wie
sein Vater hätten unter den Deutschen die zuverlässigsten und ergebensten
Stützen der Regierung gefunden. Was die Kenntniß des Russischen betreffe,
so sei darauf zu halten, daß die Abiturienten der Gymnasien desselben voll¬
ständig mächtig seien; an der Universität Dorpat neu anzustellende Professoren
sollten ebenfalls das Russische wenigstens einigermaßen verstehen, oder wenn
sie Ausländer sind, sich bemühen, die Sprache nachträglich zu erlernen. Da¬
gegen solle eine nachträgliche Erlernung der russischen Sprache von bereits
angestellten Professoren durchaus nicht verlangt werden. Ganz anders scheint
sich jedoch der Thronfolger ausgesprochen zu haben; die Ausdrücke desselben
über die Deutschen waren — wie der Bericht sagt — „so arg, daß man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/21>, abgerufen am 26.05.2024.