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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Aufführung der Antigone mit Mendelssohn'scher Musik in unsern vergoldeten
Opernhäusern bei Gaslicht. Und doch ist das nur zu wahr. Und es gibt
dafür eine Probe, die Jeder an sich selbst machen kann. Kein Theaterbesucher
wird die feinen Wirkungen unserer Kunstbühne durch acht Stunden ertragen,
aber wenige von den fremden Gästen, welche nach dem Gebirgsdorf zum
Spiele wandern, werden vor dem letzten Schluß von dem bäurischen Schau¬
spiel scheiden.

Und doch läßt der Ausdruck des dramatischen Lebens in den Haupt¬
gestalten sehr viel zu wünschen übrig, wie gut sich auch das eingelernte Spiel
zu den frommen Worten fügen mag. und doch ist der Stoff an sich im besten
Sinne des Wortes noch nicht dramatisch und außerdem nur unvollkommen
organisirt, und der Hörer muß manches Geschmacklose, ja Peinliche in Kauf
nehmen. Was dennoch so mächtig wirkt und den verwöhnten Theater¬
besucher vom Morgen bis in den späten Nachmittag festhält, das ist nicht
nur daS Ungewöhnliche der ganzen Vorstellung, nicht nur die stärkende Alpen¬
luft und der blaue Himmel, und nicht nur der treuherzige Eifer und die
naive Hingabe der Schauspieler und des Publikums an einen heiligen Stoff,
sondern es ist vor Allem die merkwürdige, zuweilen überwältigende Empfin¬
dung, daß man hier in Bühneneinrichtung, in dem Chor und dem Zusam¬
menspiel einer bewegten Menge mit den Solopartien eine ganze Reihe von
dramatischen Einwirkungen empfängt, welche, obgleich an sich nicht die höch¬
sten des Dramas, doch in ihrer ergreifenden Gewalt vollständig künstlerisch
berechtigt sind, und welche auf unserer Bühne und in dem Kunstdrama der
Gegenwart fast gar nicht zur Geltung kommen.




Ein Blick auf das römische Concil und die zweite allgemeine
evangelisch^lutherische Conferen; zu Leipzig.*)

In der Zusammenstellung dieser scheinbar so grundverschiedenen Ver¬
sammlungen ist uns ein bekanntes Witzblatt vorangegangen mit der scherz¬
schaften Aufforderung, das Goethe'sche "Mein Leipzig ist ein klein Paris"
-- aus Rücksicht auf die evangelisch-lutherische Conferenz in das rhythmisch
gleichklingende: "Mein Leipzig ist ein kleines Rom" umzuändern. So hoch
können wir die Bedeutung dieser Theologenversammlung für Leipzig und



') Vgl. Luthardt, die Bedeutung der Lehreinheit :c. Leipzig 1870; und Offizielle Acte",
stück" zum stum. Concil. 2. Sammlung, Berlin 1870.
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Aufführung der Antigone mit Mendelssohn'scher Musik in unsern vergoldeten
Opernhäusern bei Gaslicht. Und doch ist das nur zu wahr. Und es gibt
dafür eine Probe, die Jeder an sich selbst machen kann. Kein Theaterbesucher
wird die feinen Wirkungen unserer Kunstbühne durch acht Stunden ertragen,
aber wenige von den fremden Gästen, welche nach dem Gebirgsdorf zum
Spiele wandern, werden vor dem letzten Schluß von dem bäurischen Schau¬
spiel scheiden.

Und doch läßt der Ausdruck des dramatischen Lebens in den Haupt¬
gestalten sehr viel zu wünschen übrig, wie gut sich auch das eingelernte Spiel
zu den frommen Worten fügen mag. und doch ist der Stoff an sich im besten
Sinne des Wortes noch nicht dramatisch und außerdem nur unvollkommen
organisirt, und der Hörer muß manches Geschmacklose, ja Peinliche in Kauf
nehmen. Was dennoch so mächtig wirkt und den verwöhnten Theater¬
besucher vom Morgen bis in den späten Nachmittag festhält, das ist nicht
nur daS Ungewöhnliche der ganzen Vorstellung, nicht nur die stärkende Alpen¬
luft und der blaue Himmel, und nicht nur der treuherzige Eifer und die
naive Hingabe der Schauspieler und des Publikums an einen heiligen Stoff,
sondern es ist vor Allem die merkwürdige, zuweilen überwältigende Empfin¬
dung, daß man hier in Bühneneinrichtung, in dem Chor und dem Zusam¬
menspiel einer bewegten Menge mit den Solopartien eine ganze Reihe von
dramatischen Einwirkungen empfängt, welche, obgleich an sich nicht die höch¬
sten des Dramas, doch in ihrer ergreifenden Gewalt vollständig künstlerisch
berechtigt sind, und welche auf unserer Bühne und in dem Kunstdrama der
Gegenwart fast gar nicht zur Geltung kommen.




Ein Blick auf das römische Concil und die zweite allgemeine
evangelisch^lutherische Conferen; zu Leipzig.*)

In der Zusammenstellung dieser scheinbar so grundverschiedenen Ver¬
sammlungen ist uns ein bekanntes Witzblatt vorangegangen mit der scherz¬
schaften Aufforderung, das Goethe'sche „Mein Leipzig ist ein klein Paris"
— aus Rücksicht auf die evangelisch-lutherische Conferenz in das rhythmisch
gleichklingende: „Mein Leipzig ist ein kleines Rom" umzuändern. So hoch
können wir die Bedeutung dieser Theologenversammlung für Leipzig und



') Vgl. Luthardt, die Bedeutung der Lehreinheit :c. Leipzig 1870; und Offizielle Acte»,
stück« zum stum. Concil. 2. Sammlung, Berlin 1870.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/59>, abgerufen am 17.06.2024.