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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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unsere bekenntnißtreuen Pastoren, "wenn alle untreu werden" -- die luthe¬
rische Kirche repräsentiren, und daß diese Kirche ebenso unverbesserlich ist wie
die katholische, ebenso unfehlbar wie der römische Papst. Herr Consistorial-
rath Prof. Dr. Luthardt, der unseres Erachtens entschiedenste Sprecher der
Versammlung sagt: "Die Kirche ist die Predigerin des Glaubens und die
Lehrerin der Völker. So muß sie ihrer Lehre gewiß und sicher sein und muß
mehr besitzen, als der einzelne nöthig hat. Wenn die Kirche nicht mehr das
Zeug hat, die Fragen zu beantworten, sondern nur (?) Fragen zu stellen,
nicht mehr den Muth, die Fragenden zu bescheiden, weil sie nicht mehr
die Gewißheit hat, die Wahrheit zu besitzen und die Lehrerin der Völker
zu sein -- was will sie dann überhaupt noch?" (S. 10 u. S. 13). An¬
spruchsvoller ist die katholische Kirche auch nicht. Sie fühlt sich berufen, die
Lehrerin der Völker zu sein (schon seit länger als die lutherische) und fühlt
sich zur Fortsetzung dieses Geschäfts allen Concurrenten gewachsen durch die
Gewißheit, die Wahrheit zu besitzen. (Vgl. Lavonss as eeelssis,
Qnristi, insbesondere 2. 6. 8. 9. 10. Man braucht nur überall, wo "Kirche"
steht, "lutherische Kirche" zu denken, so hat man die Ansicht der evangelisch¬
lutherischen Conferenz).

Herr Luthardt wird sich vielleicht über diese Auslegung seiner Worte
beklagen; er wird vielleicht geltend machen, daß er den Begriff der "lutheri¬
schen Kirche" gar nicht definirt habe. Das war allerdings entweder eine Klug¬
heit, oder ein Versehen, dessen er sich schuldig gemacht hat. Wohlan, so
gebe er uns seine Definition derselben nachträglich. Seinem Vortrage läßt
sich nichts Anderes entnehmen, als daß die evangelische Kirche ebenso im
Vollbesitz aller Wahrheit ist wie die katholische zu sein vorgibt; verwahrt
er sie dock) geflissentlich gegen die Annahme, "daß die Kirche ein Institut deS
natürlichen Lebens sei" und nicht Alles, was sie zur Kirche macht, unmittel¬
bar von Gott habe, sondern ein Product der Geschichte sei, also der Zeit
angehöre (S. 14 und 17). "Die Wurzeln der tuts. Kirche reichen zurück
bis auf den Tag der Pfingsten" (S. 22). Bisher war dies ein Privileg
der katholischen Kirche, "nur lehren und nichts mehr lernen zu müssen;" jetzt
besitzt es auch ihre alte Gegnerin, die evangelisch-lutherische Kirche. Wer
sagt's? Daß der Papst unfehlbar sei, wenn er ex oatkeära, redet, sagt er
selbst; daß die lutherische Kirche unfehlbar sei, wenn sie ex eatueärg. "be¬
kennt", sagt Professor Luthardt -- nicht etwa Luther, nicht eine lutherische
Bekenntnißschrift, nicht die Bibel. Die letztere, die nach reformatorischen
Grundsatze allein entscheiden soll, wird wohlweislich nicht einmal genannt.
Soviel sich auch mit dem geduldigen Buch ausrichten läßt -- Beweise für
das Neulutherthum und die Berechtigung seiner neuesten Ansprüche lassen
sich ihm nicht abquälen.


unsere bekenntnißtreuen Pastoren, „wenn alle untreu werden" — die luthe¬
rische Kirche repräsentiren, und daß diese Kirche ebenso unverbesserlich ist wie
die katholische, ebenso unfehlbar wie der römische Papst. Herr Consistorial-
rath Prof. Dr. Luthardt, der unseres Erachtens entschiedenste Sprecher der
Versammlung sagt: „Die Kirche ist die Predigerin des Glaubens und die
Lehrerin der Völker. So muß sie ihrer Lehre gewiß und sicher sein und muß
mehr besitzen, als der einzelne nöthig hat. Wenn die Kirche nicht mehr das
Zeug hat, die Fragen zu beantworten, sondern nur (?) Fragen zu stellen,
nicht mehr den Muth, die Fragenden zu bescheiden, weil sie nicht mehr
die Gewißheit hat, die Wahrheit zu besitzen und die Lehrerin der Völker
zu sein — was will sie dann überhaupt noch?" (S. 10 u. S. 13). An¬
spruchsvoller ist die katholische Kirche auch nicht. Sie fühlt sich berufen, die
Lehrerin der Völker zu sein (schon seit länger als die lutherische) und fühlt
sich zur Fortsetzung dieses Geschäfts allen Concurrenten gewachsen durch die
Gewißheit, die Wahrheit zu besitzen. (Vgl. Lavonss as eeelssis,
Qnristi, insbesondere 2. 6. 8. 9. 10. Man braucht nur überall, wo „Kirche"
steht, „lutherische Kirche" zu denken, so hat man die Ansicht der evangelisch¬
lutherischen Conferenz).

Herr Luthardt wird sich vielleicht über diese Auslegung seiner Worte
beklagen; er wird vielleicht geltend machen, daß er den Begriff der „lutheri¬
schen Kirche" gar nicht definirt habe. Das war allerdings entweder eine Klug¬
heit, oder ein Versehen, dessen er sich schuldig gemacht hat. Wohlan, so
gebe er uns seine Definition derselben nachträglich. Seinem Vortrage läßt
sich nichts Anderes entnehmen, als daß die evangelische Kirche ebenso im
Vollbesitz aller Wahrheit ist wie die katholische zu sein vorgibt; verwahrt
er sie dock) geflissentlich gegen die Annahme, „daß die Kirche ein Institut deS
natürlichen Lebens sei" und nicht Alles, was sie zur Kirche macht, unmittel¬
bar von Gott habe, sondern ein Product der Geschichte sei, also der Zeit
angehöre (S. 14 und 17). „Die Wurzeln der tuts. Kirche reichen zurück
bis auf den Tag der Pfingsten" (S. 22). Bisher war dies ein Privileg
der katholischen Kirche, „nur lehren und nichts mehr lernen zu müssen;" jetzt
besitzt es auch ihre alte Gegnerin, die evangelisch-lutherische Kirche. Wer
sagt's? Daß der Papst unfehlbar sei, wenn er ex oatkeära, redet, sagt er
selbst; daß die lutherische Kirche unfehlbar sei, wenn sie ex eatueärg. „be¬
kennt", sagt Professor Luthardt — nicht etwa Luther, nicht eine lutherische
Bekenntnißschrift, nicht die Bibel. Die letztere, die nach reformatorischen
Grundsatze allein entscheiden soll, wird wohlweislich nicht einmal genannt.
Soviel sich auch mit dem geduldigen Buch ausrichten läßt — Beweise für
das Neulutherthum und die Berechtigung seiner neuesten Ansprüche lassen
sich ihm nicht abquälen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/61>, abgerufen am 17.06.2024.