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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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gleichviel ob Popensöhne oder nicht, die sich dem Priesterstande widmen
wollen, die Ausbildung in einer höheren Schulanstalt genießen und die Reife
für die Universität erlangt haben müssen, bevor sie in eins der bestehenden
Priesterseminare oder geistlichen Akademien in Petersburg. Moskau, Kiew
und Kasan aufgenommen werden können. In diesen Seminarien, wo früher
Leute ohne besondere Vorbildung untergebracht und lediglich im praktischen
Ktrchendienst ausgebildet wurden, ist die Disciplin ganz verändert, und unter
den neu hinzugetretenen Lehrgegenständen ist auch Philosophie in den Lections-
plan aufgenommen worden. Neben dem Zeugniß der Reife muß der in ein
Seminar Eintretende jetzt ein besonderes, von der frequentirten Schule aus¬
gestelltes und von der Bezirksbehörde beglaubigtes Zeugniß über seine poli¬
tische Unbescholtenheit einreichen. Es gab bisher einen erblichen Stand der
Geistlichkeit, dieser ist aber mit dem Statut vom 30. Mai von der Regie-
rung aufgehoben und dadurch ein wichtiger Schritt auf der Bahn innerer
Reformen gethan worden. Die Organisation war bis dahin höchst mangel¬
haft und die russische Regierung, welche die schädlichen Wirkungen davon er¬
kannte, konnte dennoch nicht dagegen wirken, weil der Kaiser selbst als Ober¬
haupt der Kirche Rücksichten aus die Würdenträger derselben nehmen zu
müssen glaubte. Die hohe Geistlichkeit ist jeder Reform auf kirchlichem Ge¬
biete, welche ihre bevorrechtete Stellung, ihren ausgedehnten Einfluß auf die
niedere Geistlichkeit und das Volk beschränken könnte, durchaus abgeneigt.
Die niedere, weiße oder Weltgeistlichkeit zerfällt in zwei Klassen, den niederen
Priesterstand und die große Menge der Kirchendiener und dergl. Diese Per¬
sonen werden in ihrem Stande geboren und haben dadurch besondere Privi¬
legien und Vorrechte, insofern sie von Steuer- und Militärpflicht befreit sind
und ihre Söhne in geistliche Anstalten schicken können, aus denen dieselben,
wenn sie das Examen gut bestehen, auf die Akademie gehen und in die höhere
Carriere eintreten. Im andern Falle werden sie nur Diakonen oder wenn
sie kein Examen machen konnten, Kirchendiener, oder sie kommen als Novizen
ins Kloster. Dort sammelt sich die wackere Jugend, die entweder zu jeder
sonstigen Thätigkeit unfähig oder vor der Militärdienstpfltcht flieht und den
Müßiggang vorzieht. Darum wird die Aufhebung der Erblichkeit bei den
niederen Geistlichen ein Segen werden, weil dadurch, wenn den Söhnen
auch noch gewisse Standesvorrechte gewährt sind und Befreiung vom Militär
sowie vom Steuerzahler, doch ihr Eintritt zum Civildienst oder zu irgend
einer Beschäftigung erzielt werden wird.

An den vorher erwähnten Akademien wurden früher (nach den seit 1839
bestehenden Einrichtungen) in voller Systemlosigkeit die verschiedensten theo¬
logischen Materien, Geschichte, Geographie, 5 neuere Sprachen, von denen
selten eine gründlich haftete, Naturwissenschaften, Mathematik, Landwirth-


gleichviel ob Popensöhne oder nicht, die sich dem Priesterstande widmen
wollen, die Ausbildung in einer höheren Schulanstalt genießen und die Reife
für die Universität erlangt haben müssen, bevor sie in eins der bestehenden
Priesterseminare oder geistlichen Akademien in Petersburg. Moskau, Kiew
und Kasan aufgenommen werden können. In diesen Seminarien, wo früher
Leute ohne besondere Vorbildung untergebracht und lediglich im praktischen
Ktrchendienst ausgebildet wurden, ist die Disciplin ganz verändert, und unter
den neu hinzugetretenen Lehrgegenständen ist auch Philosophie in den Lections-
plan aufgenommen worden. Neben dem Zeugniß der Reife muß der in ein
Seminar Eintretende jetzt ein besonderes, von der frequentirten Schule aus¬
gestelltes und von der Bezirksbehörde beglaubigtes Zeugniß über seine poli¬
tische Unbescholtenheit einreichen. Es gab bisher einen erblichen Stand der
Geistlichkeit, dieser ist aber mit dem Statut vom 30. Mai von der Regie-
rung aufgehoben und dadurch ein wichtiger Schritt auf der Bahn innerer
Reformen gethan worden. Die Organisation war bis dahin höchst mangel¬
haft und die russische Regierung, welche die schädlichen Wirkungen davon er¬
kannte, konnte dennoch nicht dagegen wirken, weil der Kaiser selbst als Ober¬
haupt der Kirche Rücksichten aus die Würdenträger derselben nehmen zu
müssen glaubte. Die hohe Geistlichkeit ist jeder Reform auf kirchlichem Ge¬
biete, welche ihre bevorrechtete Stellung, ihren ausgedehnten Einfluß auf die
niedere Geistlichkeit und das Volk beschränken könnte, durchaus abgeneigt.
Die niedere, weiße oder Weltgeistlichkeit zerfällt in zwei Klassen, den niederen
Priesterstand und die große Menge der Kirchendiener und dergl. Diese Per¬
sonen werden in ihrem Stande geboren und haben dadurch besondere Privi¬
legien und Vorrechte, insofern sie von Steuer- und Militärpflicht befreit sind
und ihre Söhne in geistliche Anstalten schicken können, aus denen dieselben,
wenn sie das Examen gut bestehen, auf die Akademie gehen und in die höhere
Carriere eintreten. Im andern Falle werden sie nur Diakonen oder wenn
sie kein Examen machen konnten, Kirchendiener, oder sie kommen als Novizen
ins Kloster. Dort sammelt sich die wackere Jugend, die entweder zu jeder
sonstigen Thätigkeit unfähig oder vor der Militärdienstpfltcht flieht und den
Müßiggang vorzieht. Darum wird die Aufhebung der Erblichkeit bei den
niederen Geistlichen ein Segen werden, weil dadurch, wenn den Söhnen
auch noch gewisse Standesvorrechte gewährt sind und Befreiung vom Militär
sowie vom Steuerzahler, doch ihr Eintritt zum Civildienst oder zu irgend
einer Beschäftigung erzielt werden wird.

An den vorher erwähnten Akademien wurden früher (nach den seit 1839
bestehenden Einrichtungen) in voller Systemlosigkeit die verschiedensten theo¬
logischen Materien, Geschichte, Geographie, 5 neuere Sprachen, von denen
selten eine gründlich haftete, Naturwissenschaften, Mathematik, Landwirth-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/74>, abgerufen am 17.06.2024.