Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schaft, populäre Medizin traktirt, die Bibliotheken wenig bedacht. Zeitungen
und Journale gar nicht gelesen, der Umgang mit Nichtgeistlichen eingeschränkt
und nur Verkehr mit Geistlichen als nützlich anerkannt. Wenn dies sich auch
nach der Reorganisation ändert, so hat doch noch immer eine Concession an
die mächtige Geistlichkeit gemacht werden müssen, welche darin besteht, daß
die Akademien der Aufsicht des Erzbischofs und dem spröd untergeben bleiben.
Im Uebrigen sind sie nach dem Muster theologischer Facultäten mit Pro¬
fessoren. Privatdocenten und Lectoren versehen, und können Studirende aus
allen Klassen der Gesellschaft aufgenommen werden, sobald sie der griechischen
Confession angehören. Die Sprachlehrer dürfen auch Dissidenten sein. Die
Bibliotheken werden jetzt reichlicher ausgestattet und die Vervollständigung
derselben ist dem akad. Rath censursrei überlassen. Der volle Lehrcursus ist
auf vier Jahre berechnet, nach deren Ablauf Candidaten, Magister und Doctoren
creirt werden. -- Auch das seit 1864 bestehende Gymnasial-Reglement wird
gegenwärtig unter dem Vorsitze des Grafen Stroganow von einer Commission
aus Mitgliedern des Neichsraths und des Ministeriums einer Revision un¬
terworfen.

Wie traurig es mit dem Volksunterricht bisher gestanden hat, geht
daraus hervor, daß es bis Mitte vorigen Jahres in einem der bevölkertsten
Kreise Rußlands, dem Petersburger, nur 18 Volksschulen gab, sodaß nur
3 Procent der bürgerlichen Bevölkerung des Lesens kundig sind. Ueber die
Organisation des Volksunterrichts in Rußland waren Briefe an den Unter-
richts-Mtnister Grafen Tolstoi von Schedo Ferroti (Baron Firkl) herausge¬
geben worden, dessen Vorschläge ^darauf hinausgingen, dem totalen Mangel
an Volksschullehrern dadurch abzuhelfen, daß man Frauenzimmer zur Arbeit
auf diesem Gebiete heranzöge. Jedenfalls hat das Ministerium beschlossen,
noch im Laufe dieses Jahres 300 zweiklassige Volksschulen einzurichten. Unter
die Soldaten sollte die englische Ausgabe der russichen Bibel, gewissermaßen
als Lesebuch, unentgeltlich vertheilt werden, aber der "heilige dirigirende
spröd" hat sich das verbeten, weil demselben das Monopol der Bibelaus¬
gabe zusteht. Aber dagegen hat derselbe nichts einzuwenden gehabt, daß in
den auf Kosten der Regierung herausgegebenen Gesang- und Gebetbüchern
für Protestanten und Katholiken absichtlich die Stellen, welche über die Unrer-
scheidungslehrcn des Protestantismus und Katholicismus vom sog. orthodoxen
Glauben handeln, so geändert wurden, um den Beweis zu liefern, daß zwischen
den drei Bekenntnissen keine wesentlichen Unterschiede bestehen.

Außer dem Mangel an Volksschullehrern macht sich auch der an Gym-
nasiallehrern immer fühlbarer. Um dem abzuhelfen, hat der Minister be-
schlossen, junge Philologen slavischen Stammes aus Oestreich herbeizuziehen
und hat zu ihrer praktischen Ausbildung in russischen Seminarien die jähr-
*


9

schaft, populäre Medizin traktirt, die Bibliotheken wenig bedacht. Zeitungen
und Journale gar nicht gelesen, der Umgang mit Nichtgeistlichen eingeschränkt
und nur Verkehr mit Geistlichen als nützlich anerkannt. Wenn dies sich auch
nach der Reorganisation ändert, so hat doch noch immer eine Concession an
die mächtige Geistlichkeit gemacht werden müssen, welche darin besteht, daß
die Akademien der Aufsicht des Erzbischofs und dem spröd untergeben bleiben.
Im Uebrigen sind sie nach dem Muster theologischer Facultäten mit Pro¬
fessoren. Privatdocenten und Lectoren versehen, und können Studirende aus
allen Klassen der Gesellschaft aufgenommen werden, sobald sie der griechischen
Confession angehören. Die Sprachlehrer dürfen auch Dissidenten sein. Die
Bibliotheken werden jetzt reichlicher ausgestattet und die Vervollständigung
derselben ist dem akad. Rath censursrei überlassen. Der volle Lehrcursus ist
auf vier Jahre berechnet, nach deren Ablauf Candidaten, Magister und Doctoren
creirt werden. — Auch das seit 1864 bestehende Gymnasial-Reglement wird
gegenwärtig unter dem Vorsitze des Grafen Stroganow von einer Commission
aus Mitgliedern des Neichsraths und des Ministeriums einer Revision un¬
terworfen.

Wie traurig es mit dem Volksunterricht bisher gestanden hat, geht
daraus hervor, daß es bis Mitte vorigen Jahres in einem der bevölkertsten
Kreise Rußlands, dem Petersburger, nur 18 Volksschulen gab, sodaß nur
3 Procent der bürgerlichen Bevölkerung des Lesens kundig sind. Ueber die
Organisation des Volksunterrichts in Rußland waren Briefe an den Unter-
richts-Mtnister Grafen Tolstoi von Schedo Ferroti (Baron Firkl) herausge¬
geben worden, dessen Vorschläge ^darauf hinausgingen, dem totalen Mangel
an Volksschullehrern dadurch abzuhelfen, daß man Frauenzimmer zur Arbeit
auf diesem Gebiete heranzöge. Jedenfalls hat das Ministerium beschlossen,
noch im Laufe dieses Jahres 300 zweiklassige Volksschulen einzurichten. Unter
die Soldaten sollte die englische Ausgabe der russichen Bibel, gewissermaßen
als Lesebuch, unentgeltlich vertheilt werden, aber der „heilige dirigirende
spröd" hat sich das verbeten, weil demselben das Monopol der Bibelaus¬
gabe zusteht. Aber dagegen hat derselbe nichts einzuwenden gehabt, daß in
den auf Kosten der Regierung herausgegebenen Gesang- und Gebetbüchern
für Protestanten und Katholiken absichtlich die Stellen, welche über die Unrer-
scheidungslehrcn des Protestantismus und Katholicismus vom sog. orthodoxen
Glauben handeln, so geändert wurden, um den Beweis zu liefern, daß zwischen
den drei Bekenntnissen keine wesentlichen Unterschiede bestehen.

Außer dem Mangel an Volksschullehrern macht sich auch der an Gym-
nasiallehrern immer fühlbarer. Um dem abzuhelfen, hat der Minister be-
schlossen, junge Philologen slavischen Stammes aus Oestreich herbeizuziehen
und hat zu ihrer praktischen Ausbildung in russischen Seminarien die jähr-
*


9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0075" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124225"/>
            <p xml:id="ID_201" prev="#ID_200"> schaft, populäre Medizin traktirt, die Bibliotheken wenig bedacht. Zeitungen<lb/>
und Journale gar nicht gelesen, der Umgang mit Nichtgeistlichen eingeschränkt<lb/>
und nur Verkehr mit Geistlichen als nützlich anerkannt. Wenn dies sich auch<lb/>
nach der Reorganisation ändert, so hat doch noch immer eine Concession an<lb/>
die mächtige Geistlichkeit gemacht werden müssen, welche darin besteht, daß<lb/>
die Akademien der Aufsicht des Erzbischofs und dem spröd untergeben bleiben.<lb/>
Im Uebrigen sind sie nach dem Muster theologischer Facultäten mit Pro¬<lb/>
fessoren. Privatdocenten und Lectoren versehen, und können Studirende aus<lb/>
allen Klassen der Gesellschaft aufgenommen werden, sobald sie der griechischen<lb/>
Confession angehören. Die Sprachlehrer dürfen auch Dissidenten sein. Die<lb/>
Bibliotheken werden jetzt reichlicher ausgestattet und die Vervollständigung<lb/>
derselben ist dem akad. Rath censursrei überlassen. Der volle Lehrcursus ist<lb/>
auf vier Jahre berechnet, nach deren Ablauf Candidaten, Magister und Doctoren<lb/>
creirt werden. &#x2014; Auch das seit 1864 bestehende Gymnasial-Reglement wird<lb/>
gegenwärtig unter dem Vorsitze des Grafen Stroganow von einer Commission<lb/>
aus Mitgliedern des Neichsraths und des Ministeriums einer Revision un¬<lb/>
terworfen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_202"> Wie traurig es mit dem Volksunterricht bisher gestanden hat, geht<lb/>
daraus hervor, daß es bis Mitte vorigen Jahres in einem der bevölkertsten<lb/>
Kreise Rußlands, dem Petersburger, nur 18 Volksschulen gab, sodaß nur<lb/>
3 Procent der bürgerlichen Bevölkerung des Lesens kundig sind. Ueber die<lb/>
Organisation des Volksunterrichts in Rußland waren Briefe an den Unter-<lb/>
richts-Mtnister Grafen Tolstoi von Schedo Ferroti (Baron Firkl) herausge¬<lb/>
geben worden, dessen Vorschläge ^darauf hinausgingen, dem totalen Mangel<lb/>
an Volksschullehrern dadurch abzuhelfen, daß man Frauenzimmer zur Arbeit<lb/>
auf diesem Gebiete heranzöge. Jedenfalls hat das Ministerium beschlossen,<lb/>
noch im Laufe dieses Jahres 300 zweiklassige Volksschulen einzurichten. Unter<lb/>
die Soldaten sollte die englische Ausgabe der russichen Bibel, gewissermaßen<lb/>
als Lesebuch, unentgeltlich vertheilt werden, aber der &#x201E;heilige dirigirende<lb/>
spröd" hat sich das verbeten, weil demselben das Monopol der Bibelaus¬<lb/>
gabe zusteht. Aber dagegen hat derselbe nichts einzuwenden gehabt, daß in<lb/>
den auf Kosten der Regierung herausgegebenen Gesang- und Gebetbüchern<lb/>
für Protestanten und Katholiken absichtlich die Stellen, welche über die Unrer-<lb/>
scheidungslehrcn des Protestantismus und Katholicismus vom sog. orthodoxen<lb/>
Glauben handeln, so geändert wurden, um den Beweis zu liefern, daß zwischen<lb/>
den drei Bekenntnissen keine wesentlichen Unterschiede bestehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_203" next="#ID_204"> Außer dem Mangel an Volksschullehrern macht sich auch der an Gym-<lb/>
nasiallehrern immer fühlbarer. Um dem abzuhelfen, hat der Minister be-<lb/>
schlossen, junge Philologen slavischen Stammes aus Oestreich herbeizuziehen<lb/>
und hat zu ihrer praktischen Ausbildung in russischen Seminarien die jähr-<lb/>
*</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 9</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0075] schaft, populäre Medizin traktirt, die Bibliotheken wenig bedacht. Zeitungen und Journale gar nicht gelesen, der Umgang mit Nichtgeistlichen eingeschränkt und nur Verkehr mit Geistlichen als nützlich anerkannt. Wenn dies sich auch nach der Reorganisation ändert, so hat doch noch immer eine Concession an die mächtige Geistlichkeit gemacht werden müssen, welche darin besteht, daß die Akademien der Aufsicht des Erzbischofs und dem spröd untergeben bleiben. Im Uebrigen sind sie nach dem Muster theologischer Facultäten mit Pro¬ fessoren. Privatdocenten und Lectoren versehen, und können Studirende aus allen Klassen der Gesellschaft aufgenommen werden, sobald sie der griechischen Confession angehören. Die Sprachlehrer dürfen auch Dissidenten sein. Die Bibliotheken werden jetzt reichlicher ausgestattet und die Vervollständigung derselben ist dem akad. Rath censursrei überlassen. Der volle Lehrcursus ist auf vier Jahre berechnet, nach deren Ablauf Candidaten, Magister und Doctoren creirt werden. — Auch das seit 1864 bestehende Gymnasial-Reglement wird gegenwärtig unter dem Vorsitze des Grafen Stroganow von einer Commission aus Mitgliedern des Neichsraths und des Ministeriums einer Revision un¬ terworfen. Wie traurig es mit dem Volksunterricht bisher gestanden hat, geht daraus hervor, daß es bis Mitte vorigen Jahres in einem der bevölkertsten Kreise Rußlands, dem Petersburger, nur 18 Volksschulen gab, sodaß nur 3 Procent der bürgerlichen Bevölkerung des Lesens kundig sind. Ueber die Organisation des Volksunterrichts in Rußland waren Briefe an den Unter- richts-Mtnister Grafen Tolstoi von Schedo Ferroti (Baron Firkl) herausge¬ geben worden, dessen Vorschläge ^darauf hinausgingen, dem totalen Mangel an Volksschullehrern dadurch abzuhelfen, daß man Frauenzimmer zur Arbeit auf diesem Gebiete heranzöge. Jedenfalls hat das Ministerium beschlossen, noch im Laufe dieses Jahres 300 zweiklassige Volksschulen einzurichten. Unter die Soldaten sollte die englische Ausgabe der russichen Bibel, gewissermaßen als Lesebuch, unentgeltlich vertheilt werden, aber der „heilige dirigirende spröd" hat sich das verbeten, weil demselben das Monopol der Bibelaus¬ gabe zusteht. Aber dagegen hat derselbe nichts einzuwenden gehabt, daß in den auf Kosten der Regierung herausgegebenen Gesang- und Gebetbüchern für Protestanten und Katholiken absichtlich die Stellen, welche über die Unrer- scheidungslehrcn des Protestantismus und Katholicismus vom sog. orthodoxen Glauben handeln, so geändert wurden, um den Beweis zu liefern, daß zwischen den drei Bekenntnissen keine wesentlichen Unterschiede bestehen. Außer dem Mangel an Volksschullehrern macht sich auch der an Gym- nasiallehrern immer fühlbarer. Um dem abzuhelfen, hat der Minister be- schlossen, junge Philologen slavischen Stammes aus Oestreich herbeizuziehen und hat zu ihrer praktischen Ausbildung in russischen Seminarien die jähr- * 9

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/75
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/75>, abgerufen am 17.06.2024.