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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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liebe Summe von 28,000 Rbl. bestimmt. Im vorigen Jahre sind auf diese
Weise 29 östreichische Staatsangehörige zu russischen Gymnasiallehrern
ausgebildet worden, und hat der Minister für die Zukunft die Zahl der
jährlich auf Staatskosten für das höhere Lehrfach auszubildenden östreichischen
Slaven auf 20 festgesetzt.

Es läßt sich nach alledem nicht leugnen, daß im russischen Staate eine
große Rührigkeit zu allerhand Reformen erwacht ist. Auch in der Rechtspflege
und Justizverwaltung werden bedeutende Neuerungen vorbereitet; zum Theil
sind sie schon durchgeführt. Bei der Reorganisation der Gerichte ist auch eine
Verordnung erschienen, nach welcher die zur Advokatur bei den Gerichtsbe¬
hörden zuzulassenden Beamten eine höhere juristische Vorbildung auf
der Universität oder einer Rechtsschule nachweisen müssen, ohne jedoch
zur Ableistung der für Richter üblichen Staatsprüfungen verpflichtet zu sein
Bisher wurden auch Leute zur Advokatur zugelassen, die bei einem Notar
einige Jahre gearbeitet hatten. Eine bestimmte Sporteltaxe haben die Advo¬
katen noch nicht; deshalb pflegen die Parteien mit dem Advokaten bei Ueber¬
gabe einer Rechtssache zu akkordiren, wie viel sie ihm bei gutem, wie viel
bei schlechtem Ausgange des Prozesses zu zahlen haben, wobei ein gewisses
Quantum sofort als Vorschuß angezahlt werden muß. -- Man hat es mit
Schwurgerichten versucht, nachdem vorher von den Bezirksbehörden Berichte ein¬
gefordert worden waren, ob unter der Bevölkerung Männer in ausreichen¬
der Zahl vorhanden seien, welche in Bezug auf Stellung, Vermögen und
Intelligenz den Anforderungen an Geschworne genügend entsprächen. Die
Einführung für einzelne Bezirke sollte nicht gestattet werden, sondern erst
erfolgen, wenn sie im ganzen Reiche, mit Ausnahme Polens und der Ostsee¬
provinzen, gleichmäßig möglich wäre. -- Eine Wechselordnung ist bereits er¬
lassen und enthält Bestimmungen auch in Bezug auf das Datum der Wechsel.

In Betreff des Zeugenverhörs wurden Personen der ersten zwei Rang¬
klassen der Pflicht enthoben, persönlich vor Gericht zu erscheinen. Dieses Vor¬
recht genießen die Mitglieder des Reichsraths, Minister und Ober-Dirigenten
abgesonderter Verwaltungszweige, deren Gehilfen, die Staatssecretäre, Se¬
natoren, General-Gouverneure, Truppen-Commandeure in den Militärbezirken,
General-Adjutanten, Divisions-Chefs in ihrem Bezirke, Erzbischöfe, Gouver-
neure, Stadtchefs, Ober-Polizeimeister. Allen diesen Personen ist gestattet,
innerhalb dreier Tage seit dem Empfange der Vorladung den Richter
oder Präses des Gerichtshofes um Vernehmung in ihrer Wohnung zu er¬
suchen. Am 24. Octbr. v. I. kam diese Bestimmung zum ersten Male
zur Anwendung, indem der frühere Gouverneur von Moskau, Fürst Obo-
lensky als Zeuge in einem Prozesse wegen Testamentsfälschung von dem Rechte
Gebrauch machte. Das Bezirksgericht begab sich demnach in seine Wohnung,


liebe Summe von 28,000 Rbl. bestimmt. Im vorigen Jahre sind auf diese
Weise 29 östreichische Staatsangehörige zu russischen Gymnasiallehrern
ausgebildet worden, und hat der Minister für die Zukunft die Zahl der
jährlich auf Staatskosten für das höhere Lehrfach auszubildenden östreichischen
Slaven auf 20 festgesetzt.

Es läßt sich nach alledem nicht leugnen, daß im russischen Staate eine
große Rührigkeit zu allerhand Reformen erwacht ist. Auch in der Rechtspflege
und Justizverwaltung werden bedeutende Neuerungen vorbereitet; zum Theil
sind sie schon durchgeführt. Bei der Reorganisation der Gerichte ist auch eine
Verordnung erschienen, nach welcher die zur Advokatur bei den Gerichtsbe¬
hörden zuzulassenden Beamten eine höhere juristische Vorbildung auf
der Universität oder einer Rechtsschule nachweisen müssen, ohne jedoch
zur Ableistung der für Richter üblichen Staatsprüfungen verpflichtet zu sein
Bisher wurden auch Leute zur Advokatur zugelassen, die bei einem Notar
einige Jahre gearbeitet hatten. Eine bestimmte Sporteltaxe haben die Advo¬
katen noch nicht; deshalb pflegen die Parteien mit dem Advokaten bei Ueber¬
gabe einer Rechtssache zu akkordiren, wie viel sie ihm bei gutem, wie viel
bei schlechtem Ausgange des Prozesses zu zahlen haben, wobei ein gewisses
Quantum sofort als Vorschuß angezahlt werden muß. — Man hat es mit
Schwurgerichten versucht, nachdem vorher von den Bezirksbehörden Berichte ein¬
gefordert worden waren, ob unter der Bevölkerung Männer in ausreichen¬
der Zahl vorhanden seien, welche in Bezug auf Stellung, Vermögen und
Intelligenz den Anforderungen an Geschworne genügend entsprächen. Die
Einführung für einzelne Bezirke sollte nicht gestattet werden, sondern erst
erfolgen, wenn sie im ganzen Reiche, mit Ausnahme Polens und der Ostsee¬
provinzen, gleichmäßig möglich wäre. — Eine Wechselordnung ist bereits er¬
lassen und enthält Bestimmungen auch in Bezug auf das Datum der Wechsel.

In Betreff des Zeugenverhörs wurden Personen der ersten zwei Rang¬
klassen der Pflicht enthoben, persönlich vor Gericht zu erscheinen. Dieses Vor¬
recht genießen die Mitglieder des Reichsraths, Minister und Ober-Dirigenten
abgesonderter Verwaltungszweige, deren Gehilfen, die Staatssecretäre, Se¬
natoren, General-Gouverneure, Truppen-Commandeure in den Militärbezirken,
General-Adjutanten, Divisions-Chefs in ihrem Bezirke, Erzbischöfe, Gouver-
neure, Stadtchefs, Ober-Polizeimeister. Allen diesen Personen ist gestattet,
innerhalb dreier Tage seit dem Empfange der Vorladung den Richter
oder Präses des Gerichtshofes um Vernehmung in ihrer Wohnung zu er¬
suchen. Am 24. Octbr. v. I. kam diese Bestimmung zum ersten Male
zur Anwendung, indem der frühere Gouverneur von Moskau, Fürst Obo-
lensky als Zeuge in einem Prozesse wegen Testamentsfälschung von dem Rechte
Gebrauch machte. Das Bezirksgericht begab sich demnach in seine Wohnung,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/76>, abgerufen am 17.06.2024.