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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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daselbst fanden sich die Angeklagten, deren Vertheidiger und die durch das
Gesetz gestattete Zahl von fremden Zuhörern (zwei für jeden der Angeklagten
nach deren eigener Wahl) ein, sodaß im Ganzen ungefähr 40 Personen zu¬
sammenkamen. Ueber die Zeugenvernehmung wurde ein Protokoll aufge¬
nommen. Es erwies sich aber, daß eine der Parteien, der Procuratoren-
gehilfe und die in Haft befindlichen Angeklagten nicht erschienen waren, wes¬
halb die Vernehmung des Zeugen auf einen anderen Tag verlegt werden
mußte. Die ganze Procedur hatte eine Menge Leute aus der Straße fest¬
gehalten, die trotz aller Bemühungen der Polizei nicht ganz zu entfernen
waren. Der Fürst erklärte, zur nächsten Zeugenvernehmung vor Gericht er¬
scheinen zu wollen. So werden es wohl manche hochgestellte Personen vor¬
ziehen, sich ihres Vorrechts zu begeben. --

Das Projekt, die an der Mündung des Amur gelegene Insel Sachalin
zur Strafkolonie für schwere Verbrecher zu machen, hat die kaiserliche Be¬
stätigung erhalten. Es sind bereits 200,000 R. zur Übersiedelung von 800
schweren Verbrechern dahin angewiesen worden. Eine mildere Behandlung
der Transportirten stellt der Ukas vom 28. März d. I. in Aussicht, welcher
verordnet, daß die Transporte nach Sibirien nicht mehr in der bisherigen
Art erfolgen sollen. Die Gefangenen werden in drei Klassen getheilt und
nicht mehr gemischt, sondern nach den Klassen getrennt abgeschickt. Zur
ersten Klasse gehören die wegen politischer Vergehen Deportirten, zur zweiten
die wegen Insubordination und ähnlicher Vergehungen Bestraften und zur
dritten die wirklichen Verbrecher, denen die Verschickung nach Sibirien anstatt
der Todesstrafe zuerkannt worden ist. Nur diese werden in Ketten und da,
wo keine Eisenbahnen sind, zu Fuß transportirt, wogegen die zweite Klasse
in ähnlicher Weise, aber ohne Ketten, die erste Klasse frei und nur per Eisen¬
bahn, Dampfschiff oder Fuhrwerk befördert werden soll.

Ueber die Rechtspflege selbst geben einige Beispiele Zeugniß zugleich von
den Zuständen im Innern Rußlands. Ein Proceß wegen Golddiebstahls in
den Staatswäschereien wurde auf Verfügung des Justizministers dem Crimi-
nal- und Civilgerichtshofe in Kasan überwiesen. Der Werth des gestohlenen
Goldes belief sich auf mehrere Millionen Rubel, und der Diebstahl war von
einer wohlorganisirten Bande ausgeführt worden, deren Haupt in Kowno
seinen Sitz hatte, woraus man schließt, daß das Gold ins Ausland abge¬
setzt wurde. -- Nach einer Mittheilung des Lokalblattes von Simbirks fand dort
im vorigen Jahre aus dem Bazarplatze die öffentliche Verkündigung eines von
dem Criminalgerichtshof daselbst gefällten Urtheils statt, durch welches
ein zwanzigjähriger Bauerbursche Namens Jefrem Makarow für Entwer¬
tung eines Kopeken aus der Büchse einer Kapelle mittelst Einbruchs,
aller Rechte verlustig erklärt und zur Anstedlung nach Sibirien verbannt


daselbst fanden sich die Angeklagten, deren Vertheidiger und die durch das
Gesetz gestattete Zahl von fremden Zuhörern (zwei für jeden der Angeklagten
nach deren eigener Wahl) ein, sodaß im Ganzen ungefähr 40 Personen zu¬
sammenkamen. Ueber die Zeugenvernehmung wurde ein Protokoll aufge¬
nommen. Es erwies sich aber, daß eine der Parteien, der Procuratoren-
gehilfe und die in Haft befindlichen Angeklagten nicht erschienen waren, wes¬
halb die Vernehmung des Zeugen auf einen anderen Tag verlegt werden
mußte. Die ganze Procedur hatte eine Menge Leute aus der Straße fest¬
gehalten, die trotz aller Bemühungen der Polizei nicht ganz zu entfernen
waren. Der Fürst erklärte, zur nächsten Zeugenvernehmung vor Gericht er¬
scheinen zu wollen. So werden es wohl manche hochgestellte Personen vor¬
ziehen, sich ihres Vorrechts zu begeben. —

Das Projekt, die an der Mündung des Amur gelegene Insel Sachalin
zur Strafkolonie für schwere Verbrecher zu machen, hat die kaiserliche Be¬
stätigung erhalten. Es sind bereits 200,000 R. zur Übersiedelung von 800
schweren Verbrechern dahin angewiesen worden. Eine mildere Behandlung
der Transportirten stellt der Ukas vom 28. März d. I. in Aussicht, welcher
verordnet, daß die Transporte nach Sibirien nicht mehr in der bisherigen
Art erfolgen sollen. Die Gefangenen werden in drei Klassen getheilt und
nicht mehr gemischt, sondern nach den Klassen getrennt abgeschickt. Zur
ersten Klasse gehören die wegen politischer Vergehen Deportirten, zur zweiten
die wegen Insubordination und ähnlicher Vergehungen Bestraften und zur
dritten die wirklichen Verbrecher, denen die Verschickung nach Sibirien anstatt
der Todesstrafe zuerkannt worden ist. Nur diese werden in Ketten und da,
wo keine Eisenbahnen sind, zu Fuß transportirt, wogegen die zweite Klasse
in ähnlicher Weise, aber ohne Ketten, die erste Klasse frei und nur per Eisen¬
bahn, Dampfschiff oder Fuhrwerk befördert werden soll.

Ueber die Rechtspflege selbst geben einige Beispiele Zeugniß zugleich von
den Zuständen im Innern Rußlands. Ein Proceß wegen Golddiebstahls in
den Staatswäschereien wurde auf Verfügung des Justizministers dem Crimi-
nal- und Civilgerichtshofe in Kasan überwiesen. Der Werth des gestohlenen
Goldes belief sich auf mehrere Millionen Rubel, und der Diebstahl war von
einer wohlorganisirten Bande ausgeführt worden, deren Haupt in Kowno
seinen Sitz hatte, woraus man schließt, daß das Gold ins Ausland abge¬
setzt wurde. — Nach einer Mittheilung des Lokalblattes von Simbirks fand dort
im vorigen Jahre aus dem Bazarplatze die öffentliche Verkündigung eines von
dem Criminalgerichtshof daselbst gefällten Urtheils statt, durch welches
ein zwanzigjähriger Bauerbursche Namens Jefrem Makarow für Entwer¬
tung eines Kopeken aus der Büchse einer Kapelle mittelst Einbruchs,
aller Rechte verlustig erklärt und zur Anstedlung nach Sibirien verbannt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/77>, abgerufen am 17.06.2024.