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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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wurde. -- Mit Ausschluß der Oeffentlichkeit wurde kürzlich auch ein politischer
Proceß verhandelt gegen 24 Polen, den gebildeten Ständen angehörig und
zum Theil in öffentlichen Aemtern, welche angeklagt waren, einer geheimen
Verbindung angehört zu haben, die den Zweck verfolgte, durch Ausgabe von
falschen Banknoten Geld zu einem neuen polnischen Aufstande zu sammeln
und den russischen Staatscredit zu schädigen. Es war unter denselben ein
Gymnasiallehrer Weßtort, zwei Studenten, die Frau eines Gubernial-Secre-
tärs, welche zu mehreren Jahren schwerer Arbeit oder zur Deportation ver¬
urtheilt wurden. -- Eigenthümliche Vorgänge in der Sekte der Skopzen
haben zu einem Processe geführt, der um die Mitte des vorigen Jahres in
Mmschansk begann. Soviel man davon in Erfahrung bringen konnte, haben
nicht nur Männer, sondern auch Frauen sich in einer Art verstümmeln lassen,
wodurch die Fortpflanzung verhindert wird. Der Hauptangeklagte war ein
reicher Kaufmann, Namens Maxim Ploiyzin; dieser, seine Schwester und zahl¬
reiche andere Angeklagte, darunter 20 Weiber, wurden zur Verbannung nach
Sibirien verurtheilt. Da jedoch mehrere derselben bereits in vorgerücktem
Alter sich befanden und vermuthlich vor langer Zeit die Verstümmelung er¬
litten hatten, so beschloß der Gerichtshof, beim Senate um Gnade in Folge
von Verjährung zu bitten. Der Hauptverbrecher wurde auch zum Verluste
seiner drei Medaillen und des Annenordens verurtheilt; er stand in solchem
Ansehen, daß erst einer seiner Schuldner eine directe Denunciation einreichen
mußte, um das Einschreiten Seitens der Behörden zu veranlassen. Das Ver¬
mögen desselben wurde aber seinen rechtmäßigen Erben verabfolgt. Erst am
25. Februar d. I. fand die öffentliche Verkündigung des Urtheils auf dem
Markte zu Tambow statt. Auf dem Verbrecherkarren, mit dem Rücken nach
den Pferden sitzend, und unter Trommelschlag wurde Plotyzin aus dem Ge¬
fängnisse nach dem Marktplatze gebracht, auf der Brust hatte er eine schwarze
Tafel mit der betreffenden Aufschrift. Vom Henker wurde er an den Schand"
Pfahl gebunden, die Hände auf dem Rücken, das Urtheil wurde verlesen und
die Ceremonie vollzogen, welche den bürgerlichen Tod bedeutet. Daraus brachte
man ihn nach Ostsibirien. --

Mehr als alle Reformen wird Rußland das mit Riesenschritten zuneh¬
mende Netz der Eisenbahnen den Kulturstaaten näher bringen. Die Regie¬
rung selbst hat außer den polnischen und kaukasischen Bahnen die übrigen in
sechs Gruppen unterschieden, die mit einander bereits entweder zusammen¬
hängen oder künftig doch durch noch zu bauende Bahnen in Verbindung
gebracht werden sollen. Die polnischen Bahnen haben directe Verbindung
mit den deutschen durch die Ostbahn und die Oberschlesische Bahn, auf welche
auch die Wagen übergehen können. Vom rechten Ufer der Weichsel ab aber
(die polnischen münden am linken) sind die russischen Bahnen von diesseit


wurde. — Mit Ausschluß der Oeffentlichkeit wurde kürzlich auch ein politischer
Proceß verhandelt gegen 24 Polen, den gebildeten Ständen angehörig und
zum Theil in öffentlichen Aemtern, welche angeklagt waren, einer geheimen
Verbindung angehört zu haben, die den Zweck verfolgte, durch Ausgabe von
falschen Banknoten Geld zu einem neuen polnischen Aufstande zu sammeln
und den russischen Staatscredit zu schädigen. Es war unter denselben ein
Gymnasiallehrer Weßtort, zwei Studenten, die Frau eines Gubernial-Secre-
tärs, welche zu mehreren Jahren schwerer Arbeit oder zur Deportation ver¬
urtheilt wurden. — Eigenthümliche Vorgänge in der Sekte der Skopzen
haben zu einem Processe geführt, der um die Mitte des vorigen Jahres in
Mmschansk begann. Soviel man davon in Erfahrung bringen konnte, haben
nicht nur Männer, sondern auch Frauen sich in einer Art verstümmeln lassen,
wodurch die Fortpflanzung verhindert wird. Der Hauptangeklagte war ein
reicher Kaufmann, Namens Maxim Ploiyzin; dieser, seine Schwester und zahl¬
reiche andere Angeklagte, darunter 20 Weiber, wurden zur Verbannung nach
Sibirien verurtheilt. Da jedoch mehrere derselben bereits in vorgerücktem
Alter sich befanden und vermuthlich vor langer Zeit die Verstümmelung er¬
litten hatten, so beschloß der Gerichtshof, beim Senate um Gnade in Folge
von Verjährung zu bitten. Der Hauptverbrecher wurde auch zum Verluste
seiner drei Medaillen und des Annenordens verurtheilt; er stand in solchem
Ansehen, daß erst einer seiner Schuldner eine directe Denunciation einreichen
mußte, um das Einschreiten Seitens der Behörden zu veranlassen. Das Ver¬
mögen desselben wurde aber seinen rechtmäßigen Erben verabfolgt. Erst am
25. Februar d. I. fand die öffentliche Verkündigung des Urtheils auf dem
Markte zu Tambow statt. Auf dem Verbrecherkarren, mit dem Rücken nach
den Pferden sitzend, und unter Trommelschlag wurde Plotyzin aus dem Ge¬
fängnisse nach dem Marktplatze gebracht, auf der Brust hatte er eine schwarze
Tafel mit der betreffenden Aufschrift. Vom Henker wurde er an den Schand«
Pfahl gebunden, die Hände auf dem Rücken, das Urtheil wurde verlesen und
die Ceremonie vollzogen, welche den bürgerlichen Tod bedeutet. Daraus brachte
man ihn nach Ostsibirien. —

Mehr als alle Reformen wird Rußland das mit Riesenschritten zuneh¬
mende Netz der Eisenbahnen den Kulturstaaten näher bringen. Die Regie¬
rung selbst hat außer den polnischen und kaukasischen Bahnen die übrigen in
sechs Gruppen unterschieden, die mit einander bereits entweder zusammen¬
hängen oder künftig doch durch noch zu bauende Bahnen in Verbindung
gebracht werden sollen. Die polnischen Bahnen haben directe Verbindung
mit den deutschen durch die Ostbahn und die Oberschlesische Bahn, auf welche
auch die Wagen übergehen können. Vom rechten Ufer der Weichsel ab aber
(die polnischen münden am linken) sind die russischen Bahnen von diesseit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/78>, abgerufen am 17.06.2024.