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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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stärksten dynastischen Interessen schnell nichtig werden gegenüber den Interes¬
sen des Staates. Die Bourbonen. welche Ludwig XIV. in Spanien durch¬
gesetzt hatte, führten wenige Jahre nach seinem Tode Krieg gegen Frank¬
reich, Prinz Leopold mag ein recht guter Deutscher sein, als König von
Spanien würde er die Interessen des zerrütteten Landes wahrscheinlich
in anständigem Anschluß an Frankreich zu fördern streben. Und wir
hätten unter ihm eine immerhin mögliche Coalition der romanischen
Staaten gegen uns eher zu besorgen, als wenn der Herzog von Montpensier
König von Spanien würde. Jetzt hat der Name Hohenzollern der öffent¬
lichen Meinung in Frankreich, wie ein rothes Tuch dem welschen Hahn, die
Augen geblendet, im letzten Grunde hätten fast die Franzosen Ursache,
diesen Fürsten sür Spanien zu begehren und sie würden ohne Zweifel mit
Eifer für ihn Hände und Federn gerührt haben, wenn ihnen der Gedanke
zugänglich gewesen wäre, daß wir in dieser Candidatur ohne Freude eine
gewisse Gefahr für das Gleichgewicht Europas erkennen.

Doch dem sei wie ihm wolle, für uns handelt es sich nicht mehr vor¬
zugsweise um die Candidatur des Prinzen Leopold. Diese Ursache eines un¬
erhörten Tumultes scheint ja in der That durch freien Verzicht des Prinzenbe¬
seitigt zu sein. Für Europa, zunächst für Deutschland aber erwächst daraus eine
sehr ernste Lehre. Trotz aller Fortschritte der Intelligenz und Freiheit lebt die
herrschende Partei in Frankreich, die Umgebung des Kaisers, die Minister,
die Mehrzahl der Volksvertreter, der bei weitem größte Theil der Presse,
das Volk der Kaffees und Boulevards in Vorstellungen von Ehre und natio¬
naler Größe, welche mit der Civilisation unserer Zeit unvereinbar sind. Zwei
Jahrhunderte tyrannischer Fürstenherrschaft haben in den Seelen eines edlen
und in vieler Hinsicht liebenswürdigen Volkes eine Corruption der politischen
Sittlichkeit zurückgelassen, welche ihnen die Fähigkeit vermindert friedlich, neben
ihren Nachbarn zu dauern. Für Ehrensache und für eine Lebensnothwendig¬
keit Frankreichs gilt es, auf die Nachbarvölker einen beherrschenden Einfluß
auszuüben. Spanier, Italiener, Schweizer, Belgier, Niederländer, Deutsche
werden immer noch betrachtet als Dependenzen von Frankreich. Die Worte,
welche französische Correspondenten dem Minister Ollivier in den Mund
legen, sind die wahre Herzensmeinung einer großen Majorität in Frankreich.
Ihre "Geduld" ist uns gegenüber zu Ende, daß die Preußen bei Sadowa
siegten, daß der norddeutsche Bund entstand und Lebenskraft entfaltete, daß
den Franzosen nicht glückte, Luxemburg und die Eisenbahnen des Unterrheins
zu gewinnen, daß Deutschland für seinen Handel durch das neutrale Gebiet
der Schweiz in der Gotthardbahn eine Verbindung mit Italien förderte, das
Alles gilt für eine Kränkung der französischen Ehre, für eine Minderung
der Majestät d. h. der egoistischen Herrschaft des französischen Volkes. Mit


stärksten dynastischen Interessen schnell nichtig werden gegenüber den Interes¬
sen des Staates. Die Bourbonen. welche Ludwig XIV. in Spanien durch¬
gesetzt hatte, führten wenige Jahre nach seinem Tode Krieg gegen Frank¬
reich, Prinz Leopold mag ein recht guter Deutscher sein, als König von
Spanien würde er die Interessen des zerrütteten Landes wahrscheinlich
in anständigem Anschluß an Frankreich zu fördern streben. Und wir
hätten unter ihm eine immerhin mögliche Coalition der romanischen
Staaten gegen uns eher zu besorgen, als wenn der Herzog von Montpensier
König von Spanien würde. Jetzt hat der Name Hohenzollern der öffent¬
lichen Meinung in Frankreich, wie ein rothes Tuch dem welschen Hahn, die
Augen geblendet, im letzten Grunde hätten fast die Franzosen Ursache,
diesen Fürsten sür Spanien zu begehren und sie würden ohne Zweifel mit
Eifer für ihn Hände und Federn gerührt haben, wenn ihnen der Gedanke
zugänglich gewesen wäre, daß wir in dieser Candidatur ohne Freude eine
gewisse Gefahr für das Gleichgewicht Europas erkennen.

Doch dem sei wie ihm wolle, für uns handelt es sich nicht mehr vor¬
zugsweise um die Candidatur des Prinzen Leopold. Diese Ursache eines un¬
erhörten Tumultes scheint ja in der That durch freien Verzicht des Prinzenbe¬
seitigt zu sein. Für Europa, zunächst für Deutschland aber erwächst daraus eine
sehr ernste Lehre. Trotz aller Fortschritte der Intelligenz und Freiheit lebt die
herrschende Partei in Frankreich, die Umgebung des Kaisers, die Minister,
die Mehrzahl der Volksvertreter, der bei weitem größte Theil der Presse,
das Volk der Kaffees und Boulevards in Vorstellungen von Ehre und natio¬
naler Größe, welche mit der Civilisation unserer Zeit unvereinbar sind. Zwei
Jahrhunderte tyrannischer Fürstenherrschaft haben in den Seelen eines edlen
und in vieler Hinsicht liebenswürdigen Volkes eine Corruption der politischen
Sittlichkeit zurückgelassen, welche ihnen die Fähigkeit vermindert friedlich, neben
ihren Nachbarn zu dauern. Für Ehrensache und für eine Lebensnothwendig¬
keit Frankreichs gilt es, auf die Nachbarvölker einen beherrschenden Einfluß
auszuüben. Spanier, Italiener, Schweizer, Belgier, Niederländer, Deutsche
werden immer noch betrachtet als Dependenzen von Frankreich. Die Worte,
welche französische Correspondenten dem Minister Ollivier in den Mund
legen, sind die wahre Herzensmeinung einer großen Majorität in Frankreich.
Ihre „Geduld" ist uns gegenüber zu Ende, daß die Preußen bei Sadowa
siegten, daß der norddeutsche Bund entstand und Lebenskraft entfaltete, daß
den Franzosen nicht glückte, Luxemburg und die Eisenbahnen des Unterrheins
zu gewinnen, daß Deutschland für seinen Handel durch das neutrale Gebiet
der Schweiz in der Gotthardbahn eine Verbindung mit Italien förderte, das
Alles gilt für eine Kränkung der französischen Ehre, für eine Minderung
der Majestät d. h. der egoistischen Herrschaft des französischen Volkes. Mit


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[0092] stärksten dynastischen Interessen schnell nichtig werden gegenüber den Interes¬ sen des Staates. Die Bourbonen. welche Ludwig XIV. in Spanien durch¬ gesetzt hatte, führten wenige Jahre nach seinem Tode Krieg gegen Frank¬ reich, Prinz Leopold mag ein recht guter Deutscher sein, als König von Spanien würde er die Interessen des zerrütteten Landes wahrscheinlich in anständigem Anschluß an Frankreich zu fördern streben. Und wir hätten unter ihm eine immerhin mögliche Coalition der romanischen Staaten gegen uns eher zu besorgen, als wenn der Herzog von Montpensier König von Spanien würde. Jetzt hat der Name Hohenzollern der öffent¬ lichen Meinung in Frankreich, wie ein rothes Tuch dem welschen Hahn, die Augen geblendet, im letzten Grunde hätten fast die Franzosen Ursache, diesen Fürsten sür Spanien zu begehren und sie würden ohne Zweifel mit Eifer für ihn Hände und Federn gerührt haben, wenn ihnen der Gedanke zugänglich gewesen wäre, daß wir in dieser Candidatur ohne Freude eine gewisse Gefahr für das Gleichgewicht Europas erkennen. Doch dem sei wie ihm wolle, für uns handelt es sich nicht mehr vor¬ zugsweise um die Candidatur des Prinzen Leopold. Diese Ursache eines un¬ erhörten Tumultes scheint ja in der That durch freien Verzicht des Prinzenbe¬ seitigt zu sein. Für Europa, zunächst für Deutschland aber erwächst daraus eine sehr ernste Lehre. Trotz aller Fortschritte der Intelligenz und Freiheit lebt die herrschende Partei in Frankreich, die Umgebung des Kaisers, die Minister, die Mehrzahl der Volksvertreter, der bei weitem größte Theil der Presse, das Volk der Kaffees und Boulevards in Vorstellungen von Ehre und natio¬ naler Größe, welche mit der Civilisation unserer Zeit unvereinbar sind. Zwei Jahrhunderte tyrannischer Fürstenherrschaft haben in den Seelen eines edlen und in vieler Hinsicht liebenswürdigen Volkes eine Corruption der politischen Sittlichkeit zurückgelassen, welche ihnen die Fähigkeit vermindert friedlich, neben ihren Nachbarn zu dauern. Für Ehrensache und für eine Lebensnothwendig¬ keit Frankreichs gilt es, auf die Nachbarvölker einen beherrschenden Einfluß auszuüben. Spanier, Italiener, Schweizer, Belgier, Niederländer, Deutsche werden immer noch betrachtet als Dependenzen von Frankreich. Die Worte, welche französische Correspondenten dem Minister Ollivier in den Mund legen, sind die wahre Herzensmeinung einer großen Majorität in Frankreich. Ihre „Geduld" ist uns gegenüber zu Ende, daß die Preußen bei Sadowa siegten, daß der norddeutsche Bund entstand und Lebenskraft entfaltete, daß den Franzosen nicht glückte, Luxemburg und die Eisenbahnen des Unterrheins zu gewinnen, daß Deutschland für seinen Handel durch das neutrale Gebiet der Schweiz in der Gotthardbahn eine Verbindung mit Italien förderte, das Alles gilt für eine Kränkung der französischen Ehre, für eine Minderung der Majestät d. h. der egoistischen Herrschaft des französischen Volkes. Mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/92>, abgerufen am 17.06.2024.