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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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einen Krieg ernsthaft wollen zu müssen. Ist's ein alter Racheplan, den er
jetzt hervorsucht? Haben der Besuch des Erzherzogs Albrecht in Warschau
und die rusischen Georgenkreuze ihm Sorge um eine bevorstehende Coalation
der Ostmächte in die Seele geworfen, der er durch einen schnellen Entschluß
zuvor kommen will, bevor sie festgesponnen wird? Wir suchen zur Zeit ver¬
gebens nach einer Erklärung, aber wir erachten, ganz abgesehen von der
spanischen Thronfrage, durch die Haltung der französischen Politik unseren
Frieden für stärker bedroht, als je seit dem Jahre 1866.




Die Revision der schweizerischen Bundesverfassung.

Auf der Tractandenliste der ordentlichen Sommersiyung, zu welcher
die schweizerische Bundesversammlung gegenwärtig zusammentritt, steht be¬
kanntlich auch die Revision des eidgenössischen Staatsgrundgesetzes. Nach langen
anfangs vergeblichen Bemühungen hatten es die Freunde des Fortschrittes
endlich letztes Jahr dahin gebracht, daß von den beiden gesetzgebenden Räthen
dem Bundesrathe der Auftrag ertheilt wurde, für diese Session Bericht und
Antrag zu hinterbringen, in welchen Punkten die Bundesverfassung einer
Reform zu unterziehen sei. Eine lebhafte und gründlich-grundsätzliche Dis-
cussion in der Presse und in öffentlichen und halbamtlichen Parteiversamm¬
lungen während des letzten Sommers war jenem endlichen Beschlusse
vorhergegangen. Dann war der Streit eine Zeitlang eingeschlafen und hatte
den Alpenbahnbestrebungen Platz gemacht, bis im letzten April und Mai
die Kunde von den Berathungen der eidgenössischen Executive über bie Bun¬
desrevision und die Anfangs Juni erfolgte Publication des aus jenen her¬
vorgegangenen Refvrmprogrammes die Stimme der Presse von neuem aus¬
rief, das Verdikt der öffentlichen Meinung über dieses letztere abzugeben.

Zwei Hauptrichtungen, welche sich die Namen der liberalen und der de¬
mokratischen Partei beigelegt haben, sind es, welche in diesem Meinungskampfe
vorzüglich Berücksichtigung verdienen; denn von der dritten, der conserva-
tiven Partei, ist nicht viel mehr zu sagen, als daß sie eben alles beim Alten
lassen möchte*), und daß sie sowohl durch Mangel an Sinn für wahrhaft
öffentliches Leben als durch ihre geringe numerische und geistige Bedeutung
fast ganz in den Hintergrund tritt. Jene beiden erstgenannten Parteien
h^ben das mir einander gemein, daß beide den Fortschritt, beide die Hin-



') Doch nicht so ganz viles, denn wir lesen in der ultramontanen "Walliser Zeitung", daß
man dort von der Bmrdevverfassungsrcvision ganz besonders die Aushebung des Art. 58 erwarte,
welcher lautet! "Der Orden der Jesuiten und die ihm asfiliirren Gesellschaften dürfen in keinem
Theile der Schweiz Aufnahme finden."

einen Krieg ernsthaft wollen zu müssen. Ist's ein alter Racheplan, den er
jetzt hervorsucht? Haben der Besuch des Erzherzogs Albrecht in Warschau
und die rusischen Georgenkreuze ihm Sorge um eine bevorstehende Coalation
der Ostmächte in die Seele geworfen, der er durch einen schnellen Entschluß
zuvor kommen will, bevor sie festgesponnen wird? Wir suchen zur Zeit ver¬
gebens nach einer Erklärung, aber wir erachten, ganz abgesehen von der
spanischen Thronfrage, durch die Haltung der französischen Politik unseren
Frieden für stärker bedroht, als je seit dem Jahre 1866.




Die Revision der schweizerischen Bundesverfassung.

Auf der Tractandenliste der ordentlichen Sommersiyung, zu welcher
die schweizerische Bundesversammlung gegenwärtig zusammentritt, steht be¬
kanntlich auch die Revision des eidgenössischen Staatsgrundgesetzes. Nach langen
anfangs vergeblichen Bemühungen hatten es die Freunde des Fortschrittes
endlich letztes Jahr dahin gebracht, daß von den beiden gesetzgebenden Räthen
dem Bundesrathe der Auftrag ertheilt wurde, für diese Session Bericht und
Antrag zu hinterbringen, in welchen Punkten die Bundesverfassung einer
Reform zu unterziehen sei. Eine lebhafte und gründlich-grundsätzliche Dis-
cussion in der Presse und in öffentlichen und halbamtlichen Parteiversamm¬
lungen während des letzten Sommers war jenem endlichen Beschlusse
vorhergegangen. Dann war der Streit eine Zeitlang eingeschlafen und hatte
den Alpenbahnbestrebungen Platz gemacht, bis im letzten April und Mai
die Kunde von den Berathungen der eidgenössischen Executive über bie Bun¬
desrevision und die Anfangs Juni erfolgte Publication des aus jenen her¬
vorgegangenen Refvrmprogrammes die Stimme der Presse von neuem aus¬
rief, das Verdikt der öffentlichen Meinung über dieses letztere abzugeben.

Zwei Hauptrichtungen, welche sich die Namen der liberalen und der de¬
mokratischen Partei beigelegt haben, sind es, welche in diesem Meinungskampfe
vorzüglich Berücksichtigung verdienen; denn von der dritten, der conserva-
tiven Partei, ist nicht viel mehr zu sagen, als daß sie eben alles beim Alten
lassen möchte*), und daß sie sowohl durch Mangel an Sinn für wahrhaft
öffentliches Leben als durch ihre geringe numerische und geistige Bedeutung
fast ganz in den Hintergrund tritt. Jene beiden erstgenannten Parteien
h^ben das mir einander gemein, daß beide den Fortschritt, beide die Hin-



') Doch nicht so ganz viles, denn wir lesen in der ultramontanen „Walliser Zeitung", daß
man dort von der Bmrdevverfassungsrcvision ganz besonders die Aushebung des Art. 58 erwarte,
welcher lautet! „Der Orden der Jesuiten und die ihm asfiliirren Gesellschaften dürfen in keinem
Theile der Schweiz Aufnahme finden."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/94>, abgerufen am 17.06.2024.