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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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so wichtige Verhandlungen nach den flüchtigen Notizen der Sitzung oder nach
profanen Zeitungsmitthcilungen beurtheilen. Kann doch selbst einer so ehr¬
würdigen Redaction wie derjenigen der "Leipziger Zeitung" -- um so ehr¬
würdiger, als Niemand weiß, wer eigentlich redigirt (das soll uns bei einer
offiziösen Zeitung ein anderer "Staat" erst einmal nachmachen!) -- etwas so
menschliches Passiren, wie die feindselige Opposition gegen den Fürsten Bis-
marck in der Schulfrage. Nein,


Wie anders tragen uns die Geiflcsfrmdcn
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt

der "Landtags-Mittheilungen", das heißt jener authentischen Aufzeichnungen
über die Kammerverhandlungen, welche im übrigen Deutschland "Stenogra¬
phische Berichte" heißen. Aber unter einer Woche sind sie bei uns selten her¬
zustellen, während man sie in Berlin in zwei Tagen liefert; freilich mit jener
"Dampfarbeit", die in unsern "gutgesinnten" Kreisen kaum höher geschätzt
wird, als die "affenähnliche Geschwindigkeit" vor der Schlacht von Königgrätz
in Oestreich. Wir haben Gott lob! durchaus nichts von dieser Affenähnlich¬
keit an uns. Die Reden und sonstigen Verhandlungen der Kammern so
wiederzugeben, wie sie gehalten werden, das ist ja gar keine Kunst. Das be¬
sorgen die Jünger des großen Bierey in unserer Hauptstadt genau so gut,
wie die Stolzianer in Berlin- Die Kunst besteht vielmehr darin, in sieben
Tagen diese Stenogramme so wie sie erscheinen druckfertig zu machen. Für
die Sorgfalt und Kritik, welche in dieser Zeit von den Berufenen den Steno¬
grammen gewidmet werden, ist die Spanne einer Woche eine unbedeutende
Kleinigkeit. Denn wie oft ist aus den "Landtagsmittheilungen" zu ersehen,
daß die Tagespresse sehr ungenau und voreilig die denkwürdigsten Reden be¬
richtet hat.

Aber selten hat sich das Warten auf den authentischen Text der "Land¬
tagsmittheilungen" weniger gelohnt, als diesmal. Die Zeitungen hatten recht
berichtet -- selbst die Aeußerung des Herrn Ministers von Friesen über die
deutsche Rechtseinheit, von welcher Aeußerung wir anfangs glaubten, sie sei
der Kuriosität halber aus irgend einem Bundestagsprotokolle der zwanziger
oder fünfziger Jahre in den Bericht der zweiten Kammer aufgenommen oder
von irgend einem hohen Ahnen unseres heutigen Ministers in den Tagen der
Carlsbader Beschlüsse erzeugt worden. Selbst diese Aeußerung findet sich als
eine im Jahre des Heils 1872 der Deputation der "zweiten Kammer durch
den lebendigen und leibhaftigen Minister Richard von Friesen zu erkennen
gegebene Ansicht der K. Staatsregierung über die deutsche Rechtseinheit in
dem gedruckten Berichte dieser Deputation.^ Diese Aeußerung ist zu interes-


') Landtagsmittheitttngcn, zweite Kammer, 1872. Ur. 41. S. 1123, Sy. 2.

so wichtige Verhandlungen nach den flüchtigen Notizen der Sitzung oder nach
profanen Zeitungsmitthcilungen beurtheilen. Kann doch selbst einer so ehr¬
würdigen Redaction wie derjenigen der „Leipziger Zeitung" — um so ehr¬
würdiger, als Niemand weiß, wer eigentlich redigirt (das soll uns bei einer
offiziösen Zeitung ein anderer „Staat" erst einmal nachmachen!) — etwas so
menschliches Passiren, wie die feindselige Opposition gegen den Fürsten Bis-
marck in der Schulfrage. Nein,


Wie anders tragen uns die Geiflcsfrmdcn
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt

der „Landtags-Mittheilungen", das heißt jener authentischen Aufzeichnungen
über die Kammerverhandlungen, welche im übrigen Deutschland „Stenogra¬
phische Berichte" heißen. Aber unter einer Woche sind sie bei uns selten her¬
zustellen, während man sie in Berlin in zwei Tagen liefert; freilich mit jener
„Dampfarbeit", die in unsern „gutgesinnten" Kreisen kaum höher geschätzt
wird, als die „affenähnliche Geschwindigkeit" vor der Schlacht von Königgrätz
in Oestreich. Wir haben Gott lob! durchaus nichts von dieser Affenähnlich¬
keit an uns. Die Reden und sonstigen Verhandlungen der Kammern so
wiederzugeben, wie sie gehalten werden, das ist ja gar keine Kunst. Das be¬
sorgen die Jünger des großen Bierey in unserer Hauptstadt genau so gut,
wie die Stolzianer in Berlin- Die Kunst besteht vielmehr darin, in sieben
Tagen diese Stenogramme so wie sie erscheinen druckfertig zu machen. Für
die Sorgfalt und Kritik, welche in dieser Zeit von den Berufenen den Steno¬
grammen gewidmet werden, ist die Spanne einer Woche eine unbedeutende
Kleinigkeit. Denn wie oft ist aus den „Landtagsmittheilungen" zu ersehen,
daß die Tagespresse sehr ungenau und voreilig die denkwürdigsten Reden be¬
richtet hat.

Aber selten hat sich das Warten auf den authentischen Text der „Land¬
tagsmittheilungen" weniger gelohnt, als diesmal. Die Zeitungen hatten recht
berichtet — selbst die Aeußerung des Herrn Ministers von Friesen über die
deutsche Rechtseinheit, von welcher Aeußerung wir anfangs glaubten, sie sei
der Kuriosität halber aus irgend einem Bundestagsprotokolle der zwanziger
oder fünfziger Jahre in den Bericht der zweiten Kammer aufgenommen oder
von irgend einem hohen Ahnen unseres heutigen Ministers in den Tagen der
Carlsbader Beschlüsse erzeugt worden. Selbst diese Aeußerung findet sich als
eine im Jahre des Heils 1872 der Deputation der »zweiten Kammer durch
den lebendigen und leibhaftigen Minister Richard von Friesen zu erkennen
gegebene Ansicht der K. Staatsregierung über die deutsche Rechtseinheit in
dem gedruckten Berichte dieser Deputation.^ Diese Aeußerung ist zu interes-


') Landtagsmittheitttngcn, zweite Kammer, 1872. Ur. 41. S. 1123, Sy. 2.
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[0485] so wichtige Verhandlungen nach den flüchtigen Notizen der Sitzung oder nach profanen Zeitungsmitthcilungen beurtheilen. Kann doch selbst einer so ehr¬ würdigen Redaction wie derjenigen der „Leipziger Zeitung" — um so ehr¬ würdiger, als Niemand weiß, wer eigentlich redigirt (das soll uns bei einer offiziösen Zeitung ein anderer „Staat" erst einmal nachmachen!) — etwas so menschliches Passiren, wie die feindselige Opposition gegen den Fürsten Bis- marck in der Schulfrage. Nein, Wie anders tragen uns die Geiflcsfrmdcn Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt der „Landtags-Mittheilungen", das heißt jener authentischen Aufzeichnungen über die Kammerverhandlungen, welche im übrigen Deutschland „Stenogra¬ phische Berichte" heißen. Aber unter einer Woche sind sie bei uns selten her¬ zustellen, während man sie in Berlin in zwei Tagen liefert; freilich mit jener „Dampfarbeit", die in unsern „gutgesinnten" Kreisen kaum höher geschätzt wird, als die „affenähnliche Geschwindigkeit" vor der Schlacht von Königgrätz in Oestreich. Wir haben Gott lob! durchaus nichts von dieser Affenähnlich¬ keit an uns. Die Reden und sonstigen Verhandlungen der Kammern so wiederzugeben, wie sie gehalten werden, das ist ja gar keine Kunst. Das be¬ sorgen die Jünger des großen Bierey in unserer Hauptstadt genau so gut, wie die Stolzianer in Berlin- Die Kunst besteht vielmehr darin, in sieben Tagen diese Stenogramme so wie sie erscheinen druckfertig zu machen. Für die Sorgfalt und Kritik, welche in dieser Zeit von den Berufenen den Steno¬ grammen gewidmet werden, ist die Spanne einer Woche eine unbedeutende Kleinigkeit. Denn wie oft ist aus den „Landtagsmittheilungen" zu ersehen, daß die Tagespresse sehr ungenau und voreilig die denkwürdigsten Reden be¬ richtet hat. Aber selten hat sich das Warten auf den authentischen Text der „Land¬ tagsmittheilungen" weniger gelohnt, als diesmal. Die Zeitungen hatten recht berichtet — selbst die Aeußerung des Herrn Ministers von Friesen über die deutsche Rechtseinheit, von welcher Aeußerung wir anfangs glaubten, sie sei der Kuriosität halber aus irgend einem Bundestagsprotokolle der zwanziger oder fünfziger Jahre in den Bericht der zweiten Kammer aufgenommen oder von irgend einem hohen Ahnen unseres heutigen Ministers in den Tagen der Carlsbader Beschlüsse erzeugt worden. Selbst diese Aeußerung findet sich als eine im Jahre des Heils 1872 der Deputation der »zweiten Kammer durch den lebendigen und leibhaftigen Minister Richard von Friesen zu erkennen gegebene Ansicht der K. Staatsregierung über die deutsche Rechtseinheit in dem gedruckten Berichte dieser Deputation.^ Diese Aeußerung ist zu interes- ') Landtagsmittheitttngcn, zweite Kammer, 1872. Ur. 41. S. 1123, Sy. 2.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/485>, abgerufen am 19.05.2024.