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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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einen für den anderen, wechselseitigen Correkturen, gemeinsamen Förderungen,
ist außer bei einzelnen Privilegium Ständen kaum noch die Rede. Man
wird nicht so sehr Freund allen möglichen Fortschrittes sein, um in dem
Fehlen dieser Kulturelemente nicht einen Mangel zu erblicken. Es ist klar,
daß das Ueberwiegen des entgegengesetzten Extremes leicht zu unerträglicher
Beeinträchtigung der individuellen Freiheit, ja selbst zu einer Lähmung geisti¬
gen Fortschrittes ganzer Kulturentwickelungen führen kann, doch darf nicht
verschwiegen werden, daß in der Vereinigung gleicher geistiger und materieller
Interessen auch viel Gutes lag, und daß wir die Wiederherstellung ver-
wandter Neubildungen in zeitgemäßer Form als Fortschritt begrüßen müssen.

Wenn wir die Gliederung der Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters
ins Auge fassen, so bemerken wir ein wohlgeordnetes Gefüge, das besonders
in den Städten einen hohen Grad der Vollkommenheit erreicht hatte. Wir
können hier nur einiges allgemeine andeuten, welches zum Verständniß der
später folgenden Bestimmungen der Malerzünfte nöthig ist. Im Großen
und Ganzen sind innerhalb der städtischen Bewohner zwei Hauptgruppen zu
unterscheiden: Bürger und Handwerker. Die ersteren stellen das städtische
Patriziat dar und theilen sich in Stuben oder Gesellschaften; die letzteren
sind der Zahl nach die überwiegenden und zerfallen in Zünfte, Gaffeln oder
Aemter. Der wichtigste und einflußreichste Beruf berechtigte auch zum Ein¬
tritt in die bevorzugte Classe der Bürger. Hier finden wir meistens die
Kaufleute einrangirt. oder auch, wie in Hamburg, die Brauer und Schiffer-
Gesellschaften. Die Grenze zwischen den Patriziern, als Kriegsleute auch
Konstabler genannt, ist verschiebbar und wechselt, je nachdem bei bürger¬
lichen Streitigkeiten Zünfte in die höhere Gruppe avanciren oder in die
niedere degradirt werden. So ist bekannt, daß in Straßburg 1362 die Gold¬
schmiede, Wechsler und Tuchscherer, "die vormales Kunstoflere waren zu ant-
werken gemacht" wurden. Man stieß sie zu den übrigen Zünften, ohne ihnen
eigene Gaffeln einzuräumen. In Frankfurt setzen die Gadenleute durch, zur
Stube zur avanciren u. f. f.

Der Zweck der Zünfte ist, wie ich schon früher (Grenzboten 1873 II.
99.) andeutete, zuerst ein religiöser, später erst erhalten sie Bedeutung als
Gewerbvereine, als politische Corporationen, als militärische Abtheilungen.
Der religiösen Tendenz, die sich in Besitz eines gemeinsamen Altars, gemein¬
samer Fest- und Begräbnißutensilien, Anstellung eines besondern Messners,
Beschaffung der Gelder für Messen und Wachs u. a. zeigt, schließt sich auch
eine moralische Controlle an. Unehrenhafter Lebenswandel, uneheliche Ge¬
burt schließen von der Theilnahme der Zünfte aus. Ein altes Sprüchwort
sagt: Zünfte müssen so rein sein, als hätten sie die Tauben gelesen. In
welcher Weise diese moralische Controlle geübt wurde, läßt folgende curiose


einen für den anderen, wechselseitigen Correkturen, gemeinsamen Förderungen,
ist außer bei einzelnen Privilegium Ständen kaum noch die Rede. Man
wird nicht so sehr Freund allen möglichen Fortschrittes sein, um in dem
Fehlen dieser Kulturelemente nicht einen Mangel zu erblicken. Es ist klar,
daß das Ueberwiegen des entgegengesetzten Extremes leicht zu unerträglicher
Beeinträchtigung der individuellen Freiheit, ja selbst zu einer Lähmung geisti¬
gen Fortschrittes ganzer Kulturentwickelungen führen kann, doch darf nicht
verschwiegen werden, daß in der Vereinigung gleicher geistiger und materieller
Interessen auch viel Gutes lag, und daß wir die Wiederherstellung ver-
wandter Neubildungen in zeitgemäßer Form als Fortschritt begrüßen müssen.

Wenn wir die Gliederung der Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters
ins Auge fassen, so bemerken wir ein wohlgeordnetes Gefüge, das besonders
in den Städten einen hohen Grad der Vollkommenheit erreicht hatte. Wir
können hier nur einiges allgemeine andeuten, welches zum Verständniß der
später folgenden Bestimmungen der Malerzünfte nöthig ist. Im Großen
und Ganzen sind innerhalb der städtischen Bewohner zwei Hauptgruppen zu
unterscheiden: Bürger und Handwerker. Die ersteren stellen das städtische
Patriziat dar und theilen sich in Stuben oder Gesellschaften; die letzteren
sind der Zahl nach die überwiegenden und zerfallen in Zünfte, Gaffeln oder
Aemter. Der wichtigste und einflußreichste Beruf berechtigte auch zum Ein¬
tritt in die bevorzugte Classe der Bürger. Hier finden wir meistens die
Kaufleute einrangirt. oder auch, wie in Hamburg, die Brauer und Schiffer-
Gesellschaften. Die Grenze zwischen den Patriziern, als Kriegsleute auch
Konstabler genannt, ist verschiebbar und wechselt, je nachdem bei bürger¬
lichen Streitigkeiten Zünfte in die höhere Gruppe avanciren oder in die
niedere degradirt werden. So ist bekannt, daß in Straßburg 1362 die Gold¬
schmiede, Wechsler und Tuchscherer, „die vormales Kunstoflere waren zu ant-
werken gemacht" wurden. Man stieß sie zu den übrigen Zünften, ohne ihnen
eigene Gaffeln einzuräumen. In Frankfurt setzen die Gadenleute durch, zur
Stube zur avanciren u. f. f.

Der Zweck der Zünfte ist, wie ich schon früher (Grenzboten 1873 II.
99.) andeutete, zuerst ein religiöser, später erst erhalten sie Bedeutung als
Gewerbvereine, als politische Corporationen, als militärische Abtheilungen.
Der religiösen Tendenz, die sich in Besitz eines gemeinsamen Altars, gemein¬
samer Fest- und Begräbnißutensilien, Anstellung eines besondern Messners,
Beschaffung der Gelder für Messen und Wachs u. a. zeigt, schließt sich auch
eine moralische Controlle an. Unehrenhafter Lebenswandel, uneheliche Ge¬
burt schließen von der Theilnahme der Zünfte aus. Ein altes Sprüchwort
sagt: Zünfte müssen so rein sein, als hätten sie die Tauben gelesen. In
welcher Weise diese moralische Controlle geübt wurde, läßt folgende curiose


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/92>, abgerufen am 06.06.2024.