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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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In Europa ist Derartiges nicht zu erwarten. Hier kann das Verwelken
und Verdorren des Türkenthums nur fortgehen. Kniffe. Ausflüchte, raffi-
nirtes Diplomatisiren, Scheinreformen werden hier immer das Wesen der
osmanischen Staatskunst bilden, und die türkische Armee wird, wenn Ru߬
land hier nicht einmal wieder direct eingreift, keine andere Aufgabe haben,
als aufständische Unterthanen und Vasallen des Sultans zu bekämpfen, also
Bürgerkriege zu führen. Seit hundert Jahren fast immer unglücklich in
seinen Unternehmungen, in immer engere Grenzen zurückgedrängt, durch
schlechte Verwaltung ausgesogen und verödet, ist das Reich Mehemeds. des
Eroberers von Konstantinopel, und Solimans des Großen schon längst nur
noch ein Schattenbild früherer Macht und Größe, und nicht die geringste
Hoffnung ist vorhanden, daß es je wieder zu der alten Kraft gelangen werde.
Die vornehmeren und gebildeteren Türken wissen das. Die große Masse des
Volkes aber hat kaum eine Ahnung davon. Der Dünkel der Unwissenheit
sieht nur in besonders kritischen Zeiten, wie klein, schwach und abhängig
man gegen früher geworden ist. Man hört und liest allerlei von der jungen
Türkei, wie gescheidt, wie gebildet, wie aufgeklärt sie sei. wie sie erkannt habe,
wo der Schuh drücke, wie sie nach Fortschritt und Freiheit verlange, und
was dergleichen Thorheiten mehr sind. Diese junge Türkei macht mehr von
sich reden, als sie taugt und leistet. Schwach an Zahl, schwach an Geist und
Willen, kann sie nur nachahmen, nichts Nationales entwickeln, und was sie
nachahmt, ist häusig nicht viel mehr als die Lackstiefeln und die Liederlichkeit
der pariser Muster. Wo sie zur Regierung gelangt, zeigt sie eclatant ihre
Leere und Unfähigkeit, große Redensarten und kleine Thaten. Allerdings hat
das immer gewaltigere Drängen christlicher Macht und Ueberlegenheit durch
Gesittung den Lenkern des Staates und einigen andern Höhergestellten ein
gewisses demüthigendes Gefühl der eignen Schwäche eingeflößt und sie zur
Aufpfropfung fränkischer Civilisation auf die Anschauungen, Einrichtungen
und Sitten des altgewordenen Volkes veranlaßt. Aber die Masse des Volkes
empfindet nichts von jener Demüthigung und erkennt die Vorzüge europä¬
ischer Gesittung in keiner Weise an, sie ist vielmehr nach wie vor von der
Ueberlegenheit ihres Stammes über die fränkischen Giaurs so unerschütterlich
überzeugt, wie von der Allmacht Gottes und der Unfehlbarkeit seines Pro¬
pheten. Für jeden echten Türken ist erster Glaubenssatz, daß seine Religion
einzig wahre ist. daß sein Padischah sich mit vollem Recht den König
der Könige nennt, und daß dessen weites Reich den blühendsten, reichsten und
glücklichsten Theil der bewohnten Erde umschließt. Auf diesem Bewußtsein
ruht er behaglich aus. Wohl gehen nicht alle Zeichen der Zeit eindruckslos
ihm vorüber, und namentlich beunruhigt ihm die Seele bisweilen das
Schreckbild des bösen Moskos. Aber sein Gleichmuth und seine zufriedene


Grenzboten III, 1876. 40

In Europa ist Derartiges nicht zu erwarten. Hier kann das Verwelken
und Verdorren des Türkenthums nur fortgehen. Kniffe. Ausflüchte, raffi-
nirtes Diplomatisiren, Scheinreformen werden hier immer das Wesen der
osmanischen Staatskunst bilden, und die türkische Armee wird, wenn Ru߬
land hier nicht einmal wieder direct eingreift, keine andere Aufgabe haben,
als aufständische Unterthanen und Vasallen des Sultans zu bekämpfen, also
Bürgerkriege zu führen. Seit hundert Jahren fast immer unglücklich in
seinen Unternehmungen, in immer engere Grenzen zurückgedrängt, durch
schlechte Verwaltung ausgesogen und verödet, ist das Reich Mehemeds. des
Eroberers von Konstantinopel, und Solimans des Großen schon längst nur
noch ein Schattenbild früherer Macht und Größe, und nicht die geringste
Hoffnung ist vorhanden, daß es je wieder zu der alten Kraft gelangen werde.
Die vornehmeren und gebildeteren Türken wissen das. Die große Masse des
Volkes aber hat kaum eine Ahnung davon. Der Dünkel der Unwissenheit
sieht nur in besonders kritischen Zeiten, wie klein, schwach und abhängig
man gegen früher geworden ist. Man hört und liest allerlei von der jungen
Türkei, wie gescheidt, wie gebildet, wie aufgeklärt sie sei. wie sie erkannt habe,
wo der Schuh drücke, wie sie nach Fortschritt und Freiheit verlange, und
was dergleichen Thorheiten mehr sind. Diese junge Türkei macht mehr von
sich reden, als sie taugt und leistet. Schwach an Zahl, schwach an Geist und
Willen, kann sie nur nachahmen, nichts Nationales entwickeln, und was sie
nachahmt, ist häusig nicht viel mehr als die Lackstiefeln und die Liederlichkeit
der pariser Muster. Wo sie zur Regierung gelangt, zeigt sie eclatant ihre
Leere und Unfähigkeit, große Redensarten und kleine Thaten. Allerdings hat
das immer gewaltigere Drängen christlicher Macht und Ueberlegenheit durch
Gesittung den Lenkern des Staates und einigen andern Höhergestellten ein
gewisses demüthigendes Gefühl der eignen Schwäche eingeflößt und sie zur
Aufpfropfung fränkischer Civilisation auf die Anschauungen, Einrichtungen
und Sitten des altgewordenen Volkes veranlaßt. Aber die Masse des Volkes
empfindet nichts von jener Demüthigung und erkennt die Vorzüge europä¬
ischer Gesittung in keiner Weise an, sie ist vielmehr nach wie vor von der
Ueberlegenheit ihres Stammes über die fränkischen Giaurs so unerschütterlich
überzeugt, wie von der Allmacht Gottes und der Unfehlbarkeit seines Pro¬
pheten. Für jeden echten Türken ist erster Glaubenssatz, daß seine Religion
einzig wahre ist. daß sein Padischah sich mit vollem Recht den König
der Könige nennt, und daß dessen weites Reich den blühendsten, reichsten und
glücklichsten Theil der bewohnten Erde umschließt. Auf diesem Bewußtsein
ruht er behaglich aus. Wohl gehen nicht alle Zeichen der Zeit eindruckslos
ihm vorüber, und namentlich beunruhigt ihm die Seele bisweilen das
Schreckbild des bösen Moskos. Aber sein Gleichmuth und seine zufriedene


Grenzboten III, 1876. 40
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[0321] In Europa ist Derartiges nicht zu erwarten. Hier kann das Verwelken und Verdorren des Türkenthums nur fortgehen. Kniffe. Ausflüchte, raffi- nirtes Diplomatisiren, Scheinreformen werden hier immer das Wesen der osmanischen Staatskunst bilden, und die türkische Armee wird, wenn Ru߬ land hier nicht einmal wieder direct eingreift, keine andere Aufgabe haben, als aufständische Unterthanen und Vasallen des Sultans zu bekämpfen, also Bürgerkriege zu führen. Seit hundert Jahren fast immer unglücklich in seinen Unternehmungen, in immer engere Grenzen zurückgedrängt, durch schlechte Verwaltung ausgesogen und verödet, ist das Reich Mehemeds. des Eroberers von Konstantinopel, und Solimans des Großen schon längst nur noch ein Schattenbild früherer Macht und Größe, und nicht die geringste Hoffnung ist vorhanden, daß es je wieder zu der alten Kraft gelangen werde. Die vornehmeren und gebildeteren Türken wissen das. Die große Masse des Volkes aber hat kaum eine Ahnung davon. Der Dünkel der Unwissenheit sieht nur in besonders kritischen Zeiten, wie klein, schwach und abhängig man gegen früher geworden ist. Man hört und liest allerlei von der jungen Türkei, wie gescheidt, wie gebildet, wie aufgeklärt sie sei. wie sie erkannt habe, wo der Schuh drücke, wie sie nach Fortschritt und Freiheit verlange, und was dergleichen Thorheiten mehr sind. Diese junge Türkei macht mehr von sich reden, als sie taugt und leistet. Schwach an Zahl, schwach an Geist und Willen, kann sie nur nachahmen, nichts Nationales entwickeln, und was sie nachahmt, ist häusig nicht viel mehr als die Lackstiefeln und die Liederlichkeit der pariser Muster. Wo sie zur Regierung gelangt, zeigt sie eclatant ihre Leere und Unfähigkeit, große Redensarten und kleine Thaten. Allerdings hat das immer gewaltigere Drängen christlicher Macht und Ueberlegenheit durch Gesittung den Lenkern des Staates und einigen andern Höhergestellten ein gewisses demüthigendes Gefühl der eignen Schwäche eingeflößt und sie zur Aufpfropfung fränkischer Civilisation auf die Anschauungen, Einrichtungen und Sitten des altgewordenen Volkes veranlaßt. Aber die Masse des Volkes empfindet nichts von jener Demüthigung und erkennt die Vorzüge europä¬ ischer Gesittung in keiner Weise an, sie ist vielmehr nach wie vor von der Ueberlegenheit ihres Stammes über die fränkischen Giaurs so unerschütterlich überzeugt, wie von der Allmacht Gottes und der Unfehlbarkeit seines Pro¬ pheten. Für jeden echten Türken ist erster Glaubenssatz, daß seine Religion einzig wahre ist. daß sein Padischah sich mit vollem Recht den König der Könige nennt, und daß dessen weites Reich den blühendsten, reichsten und glücklichsten Theil der bewohnten Erde umschließt. Auf diesem Bewußtsein ruht er behaglich aus. Wohl gehen nicht alle Zeichen der Zeit eindruckslos ihm vorüber, und namentlich beunruhigt ihm die Seele bisweilen das Schreckbild des bösen Moskos. Aber sein Gleichmuth und seine zufriedene Grenzboten III, 1876. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/321>, abgerufen am 18.05.2024.