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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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"enießen die gleichen Rechte. Jede hat ihren besonderen Haushalt, der aber
bei allen der nämliche ist. Sie haben ihre eigenen Zimmerreihen, Bäder,
Bureaus und eine gleiche Anzahl von Agas (Eunuchen) und Sklavinnen,
welche das Amt von Ehrendamen, Vorleserinnen, Kammerfrauen und Auf¬
wärterinnen versehen. Ihr Nadelgeld beträgt 25,000 Piaster ^- 4800 Mark
monatlich. Alle andern Ausgaben bestrettet der Schatzmeister des Sultans.
Die Kadinnen führen nicht den Titel Sultanin, der nur den Töchtern des
Großherrn gebührt. Dagegen hatten bisweilen die ersten Kadinnen von
Sultanen den Titel Chassekt (Favoritin), wie dies z. B. mit Rabta Gulnusch,
der Lieblingsfrau Mehmet's des Vierten, der Fall war, welche die Moschee
in Galata erbaute. Der Etikette wendet man die größte Aufmerksamkeit zu,
und bei der Vertheilung von Geschenken wird, um allem Neid und aller
Eifersucht vorzubeugen, nach Möglichkeit unparteiisch verfahren. Denn, ob¬
gleich diese Damen dem Sultan nie ohne die tiefste Unterwürfigkeit nahen,
obgleich sie in seiner Gegenwart sich nur auf Kissen, die auf den Fußboden
gebreitet sind, niemals aber wie die Töchter desselben, auf einen Stuhl oder
Divan setzen dürfen, ist der Großherr dennoch "bisweilen den Ausbrüchen
ihrer üblen Laune ausgesetzt, wobei die kleinen Kunstgriffe des Weinens
und Schmollens, der zärtlichen Vorwürfe und der hysterischen Krämpfe nicht
gespart werden. Werden sie nicht ausdrücklich für frei erklärt, so bleiben
sie Sklavinnen, dennoch erheben sie keine geringeren Ansprüche auf die Auf¬
merksamkeiten des Sultans als die wirklichen Ehefrauen in den wenigen
türkischen Familien, wo es mehr als eine rechtmäßige Frau giebt, auf die¬
jenigen ihrer Gatten. Wir sagen, in den wenigen türkischen Familien; denn
es ist Thatsache, daß auf hundert solche Familien kaum fünf kommen, wo
der Mann mehr als eine Frau hat. Nur die Reichen, vorzüglich die hohen
Beamten, gestatten sich das, und auch unter ihnen giebt es Ausnahmen. Es
ist daher falsch, wenn man der Polygamie die Nichtzunahme oder Abnahme
der türkischen Bevölkerung zuschreibt. Die Ursachen davon liegen vielmehr
in der unter allen Klassen der Türken herrschenden Unsitte des Kinderab-
treibens, in dem zu häufigen Gebrauche schwächender Bäder, in der oft un¬
gesunden Nahrung der Kinder und vor allem darin, daß nur die Muslime
Kriegsdienste leisten. Von hundert Soldaten kehren durchschnittlich nicht
mehr als 35 zu ihren Familien zurück, und auch diese oft in geschwächtem
Zustande.

Der ganze Haushalt des Harems besteht aus Frauen und zum Theil aus
Negerinnen, welche letzteren die geringeren Dienste verrichten und u. A. auch
die Speisen von den Drehladen abzuholen haben, die wie in Nonnenklöstern
in den Mauern angebracht sind, welche das Harem von den äußeren Höfen
oder Zimmern scheiden. Die männliche Dienerschaft stellt alles, was von


»enießen die gleichen Rechte. Jede hat ihren besonderen Haushalt, der aber
bei allen der nämliche ist. Sie haben ihre eigenen Zimmerreihen, Bäder,
Bureaus und eine gleiche Anzahl von Agas (Eunuchen) und Sklavinnen,
welche das Amt von Ehrendamen, Vorleserinnen, Kammerfrauen und Auf¬
wärterinnen versehen. Ihr Nadelgeld beträgt 25,000 Piaster ^- 4800 Mark
monatlich. Alle andern Ausgaben bestrettet der Schatzmeister des Sultans.
Die Kadinnen führen nicht den Titel Sultanin, der nur den Töchtern des
Großherrn gebührt. Dagegen hatten bisweilen die ersten Kadinnen von
Sultanen den Titel Chassekt (Favoritin), wie dies z. B. mit Rabta Gulnusch,
der Lieblingsfrau Mehmet's des Vierten, der Fall war, welche die Moschee
in Galata erbaute. Der Etikette wendet man die größte Aufmerksamkeit zu,
und bei der Vertheilung von Geschenken wird, um allem Neid und aller
Eifersucht vorzubeugen, nach Möglichkeit unparteiisch verfahren. Denn, ob¬
gleich diese Damen dem Sultan nie ohne die tiefste Unterwürfigkeit nahen,
obgleich sie in seiner Gegenwart sich nur auf Kissen, die auf den Fußboden
gebreitet sind, niemals aber wie die Töchter desselben, auf einen Stuhl oder
Divan setzen dürfen, ist der Großherr dennoch "bisweilen den Ausbrüchen
ihrer üblen Laune ausgesetzt, wobei die kleinen Kunstgriffe des Weinens
und Schmollens, der zärtlichen Vorwürfe und der hysterischen Krämpfe nicht
gespart werden. Werden sie nicht ausdrücklich für frei erklärt, so bleiben
sie Sklavinnen, dennoch erheben sie keine geringeren Ansprüche auf die Auf¬
merksamkeiten des Sultans als die wirklichen Ehefrauen in den wenigen
türkischen Familien, wo es mehr als eine rechtmäßige Frau giebt, auf die¬
jenigen ihrer Gatten. Wir sagen, in den wenigen türkischen Familien; denn
es ist Thatsache, daß auf hundert solche Familien kaum fünf kommen, wo
der Mann mehr als eine Frau hat. Nur die Reichen, vorzüglich die hohen
Beamten, gestatten sich das, und auch unter ihnen giebt es Ausnahmen. Es
ist daher falsch, wenn man der Polygamie die Nichtzunahme oder Abnahme
der türkischen Bevölkerung zuschreibt. Die Ursachen davon liegen vielmehr
in der unter allen Klassen der Türken herrschenden Unsitte des Kinderab-
treibens, in dem zu häufigen Gebrauche schwächender Bäder, in der oft un¬
gesunden Nahrung der Kinder und vor allem darin, daß nur die Muslime
Kriegsdienste leisten. Von hundert Soldaten kehren durchschnittlich nicht
mehr als 35 zu ihren Familien zurück, und auch diese oft in geschwächtem
Zustande.

Der ganze Haushalt des Harems besteht aus Frauen und zum Theil aus
Negerinnen, welche letzteren die geringeren Dienste verrichten und u. A. auch
die Speisen von den Drehladen abzuholen haben, die wie in Nonnenklöstern
in den Mauern angebracht sind, welche das Harem von den äußeren Höfen
oder Zimmern scheiden. Die männliche Dienerschaft stellt alles, was von


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[0428] »enießen die gleichen Rechte. Jede hat ihren besonderen Haushalt, der aber bei allen der nämliche ist. Sie haben ihre eigenen Zimmerreihen, Bäder, Bureaus und eine gleiche Anzahl von Agas (Eunuchen) und Sklavinnen, welche das Amt von Ehrendamen, Vorleserinnen, Kammerfrauen und Auf¬ wärterinnen versehen. Ihr Nadelgeld beträgt 25,000 Piaster ^- 4800 Mark monatlich. Alle andern Ausgaben bestrettet der Schatzmeister des Sultans. Die Kadinnen führen nicht den Titel Sultanin, der nur den Töchtern des Großherrn gebührt. Dagegen hatten bisweilen die ersten Kadinnen von Sultanen den Titel Chassekt (Favoritin), wie dies z. B. mit Rabta Gulnusch, der Lieblingsfrau Mehmet's des Vierten, der Fall war, welche die Moschee in Galata erbaute. Der Etikette wendet man die größte Aufmerksamkeit zu, und bei der Vertheilung von Geschenken wird, um allem Neid und aller Eifersucht vorzubeugen, nach Möglichkeit unparteiisch verfahren. Denn, ob¬ gleich diese Damen dem Sultan nie ohne die tiefste Unterwürfigkeit nahen, obgleich sie in seiner Gegenwart sich nur auf Kissen, die auf den Fußboden gebreitet sind, niemals aber wie die Töchter desselben, auf einen Stuhl oder Divan setzen dürfen, ist der Großherr dennoch "bisweilen den Ausbrüchen ihrer üblen Laune ausgesetzt, wobei die kleinen Kunstgriffe des Weinens und Schmollens, der zärtlichen Vorwürfe und der hysterischen Krämpfe nicht gespart werden. Werden sie nicht ausdrücklich für frei erklärt, so bleiben sie Sklavinnen, dennoch erheben sie keine geringeren Ansprüche auf die Auf¬ merksamkeiten des Sultans als die wirklichen Ehefrauen in den wenigen türkischen Familien, wo es mehr als eine rechtmäßige Frau giebt, auf die¬ jenigen ihrer Gatten. Wir sagen, in den wenigen türkischen Familien; denn es ist Thatsache, daß auf hundert solche Familien kaum fünf kommen, wo der Mann mehr als eine Frau hat. Nur die Reichen, vorzüglich die hohen Beamten, gestatten sich das, und auch unter ihnen giebt es Ausnahmen. Es ist daher falsch, wenn man der Polygamie die Nichtzunahme oder Abnahme der türkischen Bevölkerung zuschreibt. Die Ursachen davon liegen vielmehr in der unter allen Klassen der Türken herrschenden Unsitte des Kinderab- treibens, in dem zu häufigen Gebrauche schwächender Bäder, in der oft un¬ gesunden Nahrung der Kinder und vor allem darin, daß nur die Muslime Kriegsdienste leisten. Von hundert Soldaten kehren durchschnittlich nicht mehr als 35 zu ihren Familien zurück, und auch diese oft in geschwächtem Zustande. Der ganze Haushalt des Harems besteht aus Frauen und zum Theil aus Negerinnen, welche letzteren die geringeren Dienste verrichten und u. A. auch die Speisen von den Drehladen abzuholen haben, die wie in Nonnenklöstern in den Mauern angebracht sind, welche das Harem von den äußeren Höfen oder Zimmern scheiden. Die männliche Dienerschaft stellt alles, was von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/428>, abgerufen am 15.05.2024.