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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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dächtniß zurückzurufen, was Frankreich von Deutschland getrennt hat, und
was uns (die Franzosen) den andern Völkern nähert; sodann kurz die wenig
bekannte Geschichte der östlichen Grenze zu erzählen und dann die alten un¬
veräußerlichen Rechte der Franzosen auf die natürlichen Grenzen des alten
Galliens ins rechte Licht zu setzen. Nachdem man gesehen hat, wie unsere
Väter ihres Besitzes entäußert wurden in einer sehr zweideutigen Hoffnung
auf einen europäischen Frieden, wird man weniger erstaunt sein über die
Rückforderungen, welche Frankreich nie aufgehört hat, auf ein Territorium
zu erheben, welches ihm gehört, und über die Anstrengungen, welche unsere
Nachbarn in verschwenderischer Weise gemacht haben, um sich derselben zu
bemächtigen, indem sie glaubten, uns so in Vormundschaft zu halten."

Wir wissen nicht, was Herr de Saint-Genis mit dem Ausdruck "ins
richtige Licht stellen" (mettre en lumiöro) hat sagen wollen. Wer aber an¬
nehmen wollte, dies bedeute so viel als klar machen, beweisen, würde sich
sehr täuschen. Der Herr Verfasser denkt gar nicht daran. Er stellt diese
unerhörte Behauptung auf, ohne einen ernstlichen Versuch zu machen, sie zu
begründen, und doch müßte er sich darüber klar sein, daß diese Beweisführung
der eigentliche Angelpunkt seiner "penibeln Arbeit" war, denn wäre ihm die¬
selbe gelungen, so müßten wir Deutschen reuevoll eingestehen, daß wir mit
Ausnahme etwa der kurzen Spanne von 1794--1814 den Franzosen schänd¬
licher Weise das Ihrige vorenthalten haben und dann möchte es mit den 28
Einfällen in Frankreich seine Richtigkeit haben. Alles, was er zur Begründ¬
ung seiner unveräußerlichen Forderungen anführt, ist eben nur Folgendes.

"Vor zehn und einem halben Jahrhundert kamen scharfsinnige Politiker
(sie!) auf den Gedanken, den Rhein (er meint hier die Rheingrenze, die
übrigens in dem damaligen Karolingischen Reiche gar nicht existirte) durch
eine solide Barriere aus kleinen unabhängigen Staaten gebildet" (d. i. histo¬
rischer Nonsens, oder wie viele waren es und wie heißen sie?) "zu ersetzen,
welche in ihrer Neutralität ihre Stärke finden sollte und gewissermaßen
solidarisch für einander hafteten. Die Bischöfe, welche im Jahre 843 den
Vertrag von Verdun aufsetzten, wollten die Gallier von den Deutschen durch
eine politische Combination trennen. Jene neutrale Zone war durch die
Diplomaten des 9. Jahrhunderts dem gallischen Territorium entlehnt, sie war
<zuM germanisirt" (also doch!) "in dem Maße, wie sich die französische Ein¬
heit" (wenn es hier Ehrgeiz hieße, würde der Satz einen Sinn bekommen)
"stärkte, fühlte man die Nothwendigkeit, dem alten Gallier" (aber wo war
denn dies und wo die alten Gallier?) "seine natürliche Alpen- und Rhein¬
grenze zurückzugeben."

Man sieht also: eine ernsthafte Begründung seiner Behauptung hat er
gar nicht versucht und zwar deshalb nicht, weil er sich wohl bewußt ist, daß


dächtniß zurückzurufen, was Frankreich von Deutschland getrennt hat, und
was uns (die Franzosen) den andern Völkern nähert; sodann kurz die wenig
bekannte Geschichte der östlichen Grenze zu erzählen und dann die alten un¬
veräußerlichen Rechte der Franzosen auf die natürlichen Grenzen des alten
Galliens ins rechte Licht zu setzen. Nachdem man gesehen hat, wie unsere
Väter ihres Besitzes entäußert wurden in einer sehr zweideutigen Hoffnung
auf einen europäischen Frieden, wird man weniger erstaunt sein über die
Rückforderungen, welche Frankreich nie aufgehört hat, auf ein Territorium
zu erheben, welches ihm gehört, und über die Anstrengungen, welche unsere
Nachbarn in verschwenderischer Weise gemacht haben, um sich derselben zu
bemächtigen, indem sie glaubten, uns so in Vormundschaft zu halten."

Wir wissen nicht, was Herr de Saint-Genis mit dem Ausdruck „ins
richtige Licht stellen" (mettre en lumiöro) hat sagen wollen. Wer aber an¬
nehmen wollte, dies bedeute so viel als klar machen, beweisen, würde sich
sehr täuschen. Der Herr Verfasser denkt gar nicht daran. Er stellt diese
unerhörte Behauptung auf, ohne einen ernstlichen Versuch zu machen, sie zu
begründen, und doch müßte er sich darüber klar sein, daß diese Beweisführung
der eigentliche Angelpunkt seiner „penibeln Arbeit" war, denn wäre ihm die¬
selbe gelungen, so müßten wir Deutschen reuevoll eingestehen, daß wir mit
Ausnahme etwa der kurzen Spanne von 1794—1814 den Franzosen schänd¬
licher Weise das Ihrige vorenthalten haben und dann möchte es mit den 28
Einfällen in Frankreich seine Richtigkeit haben. Alles, was er zur Begründ¬
ung seiner unveräußerlichen Forderungen anführt, ist eben nur Folgendes.

„Vor zehn und einem halben Jahrhundert kamen scharfsinnige Politiker
(sie!) auf den Gedanken, den Rhein (er meint hier die Rheingrenze, die
übrigens in dem damaligen Karolingischen Reiche gar nicht existirte) durch
eine solide Barriere aus kleinen unabhängigen Staaten gebildet" (d. i. histo¬
rischer Nonsens, oder wie viele waren es und wie heißen sie?) „zu ersetzen,
welche in ihrer Neutralität ihre Stärke finden sollte und gewissermaßen
solidarisch für einander hafteten. Die Bischöfe, welche im Jahre 843 den
Vertrag von Verdun aufsetzten, wollten die Gallier von den Deutschen durch
eine politische Combination trennen. Jene neutrale Zone war durch die
Diplomaten des 9. Jahrhunderts dem gallischen Territorium entlehnt, sie war
<zuM germanisirt" (also doch!) „in dem Maße, wie sich die französische Ein¬
heit" (wenn es hier Ehrgeiz hieße, würde der Satz einen Sinn bekommen)
„stärkte, fühlte man die Nothwendigkeit, dem alten Gallier" (aber wo war
denn dies und wo die alten Gallier?) „seine natürliche Alpen- und Rhein¬
grenze zurückzugeben."

Man sieht also: eine ernsthafte Begründung seiner Behauptung hat er
gar nicht versucht und zwar deshalb nicht, weil er sich wohl bewußt ist, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/12>, abgerufen am 16.05.2024.