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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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dieselbe auf zwei Lügen basirt, und weil er sehr wohl weiß, daß die Masse des
französischen Publicums in historischen Dingen nicht so viel Logik besitzt, diesen
Mangel der Darstellung herauszufühlen; daß aber seine besser unterrichteten
Landsleute ihm aus Haß gegen Deutschland durch die Finger sehen würden,
darüber konnte er keinen Zweifel hegen.

Die von Herrn de Saint-Genis hier supponirte Grenze zwischen Gallien
und Germanien ist nichts anders als die von Cäsar willkürlich festgesetzte
Rheinlinie, die die Deutschen jedoch weder vor noch nach ihm respectirt
haben*), da ein Strom überhaupt keine natürliche Grenze zwischen zwei
Völkern bilden kann. Aber selbst die Unmöglichkeit angenommen, der Rhein
habe im Alterthum die beiden Völker streng geschieden, so fällt dem Herrn
de Saint-Genis immer noch die Aufgabe zu, den Beweis zu liefern, daß die
heutigen Franzosen als unverfälschte Nachkommen der alten Gallier ein un¬
veräußerliches Recht auf den früheren territorialen Besitz derselben haben.
Als Cäsar nach Gallien kam, fand er daselbst eine große Mannigfaltigkeit von
unter sich uneinigen Volksstämmen vor, von denen nur ein Theil Gallier
waren. Was von dieser Bevölkerung, unter der sich auch germanische oder ger¬
manisch gemischte Stämme vorfanden, nicht über den Rhein zurückging, wurde
unterworfen und mit der Zeit so sehr seiner Nationalität entkleidet, daß
von seiner Sprache sich nur geringe Reste in der heutigen Landessprache vor¬
finden. Als dann später die Germanen in geschlossenen Massen in das
römische Gallien einfielen, und die Legionen daraus vertrieben, fanden sie
keine Gallier vor, sondern römische Provinzialen, die von der allgemeinen
Fäulniß des sinkenden Römerreichs angesteckt, sich ohne Schwertstreich den
siegreichen Franken ergaben, und deren Land später unter den Karolingern einen
Theil des großen germanischen Weltreichs ausmachte. Der Bertrag von
Verdun theilte dasselbe bekanntermaßen in Ostfravken (Deutschland), West¬
franken (Frankreich) und Lothringen unter die drei Enkel Karl's des Großen.
Hiermit erst beginnt die französische Geschichte im eigentlichen Sinne,
denn unter den Karolingern ist die Geschichte dieses Landes untrennbar mit
der deutschen Geschichte verbunden, und was vorhergeht, ist entweder Special-
geschichte der germanischen Stämme in den eroberten Provinzen des römi¬
schen Galliens oder aber Geschichte der unterworfenen römischen Gallier.
Was also dem Bertrage von Verdun vorhergeht, müßten die französischen
Historiker, wenn anders sie logisch verfahren wollen, als Vorgeschichte ihres
Landes behandeln. Aus einer Vorgeschichte aber unveräußerliche Rechte her¬
leiten zu wollen, ist ebenso unverschämt als absurd**).




") Cäsar bekundet dieses selbst an vielen Stellen seines Gallischen Krieges.
Mit ganz demselben oder viel größerem Rechte könnte nach dieser Logik Deutschland
Grenzboten IV. 1876. 2

dieselbe auf zwei Lügen basirt, und weil er sehr wohl weiß, daß die Masse des
französischen Publicums in historischen Dingen nicht so viel Logik besitzt, diesen
Mangel der Darstellung herauszufühlen; daß aber seine besser unterrichteten
Landsleute ihm aus Haß gegen Deutschland durch die Finger sehen würden,
darüber konnte er keinen Zweifel hegen.

Die von Herrn de Saint-Genis hier supponirte Grenze zwischen Gallien
und Germanien ist nichts anders als die von Cäsar willkürlich festgesetzte
Rheinlinie, die die Deutschen jedoch weder vor noch nach ihm respectirt
haben*), da ein Strom überhaupt keine natürliche Grenze zwischen zwei
Völkern bilden kann. Aber selbst die Unmöglichkeit angenommen, der Rhein
habe im Alterthum die beiden Völker streng geschieden, so fällt dem Herrn
de Saint-Genis immer noch die Aufgabe zu, den Beweis zu liefern, daß die
heutigen Franzosen als unverfälschte Nachkommen der alten Gallier ein un¬
veräußerliches Recht auf den früheren territorialen Besitz derselben haben.
Als Cäsar nach Gallien kam, fand er daselbst eine große Mannigfaltigkeit von
unter sich uneinigen Volksstämmen vor, von denen nur ein Theil Gallier
waren. Was von dieser Bevölkerung, unter der sich auch germanische oder ger¬
manisch gemischte Stämme vorfanden, nicht über den Rhein zurückging, wurde
unterworfen und mit der Zeit so sehr seiner Nationalität entkleidet, daß
von seiner Sprache sich nur geringe Reste in der heutigen Landessprache vor¬
finden. Als dann später die Germanen in geschlossenen Massen in das
römische Gallien einfielen, und die Legionen daraus vertrieben, fanden sie
keine Gallier vor, sondern römische Provinzialen, die von der allgemeinen
Fäulniß des sinkenden Römerreichs angesteckt, sich ohne Schwertstreich den
siegreichen Franken ergaben, und deren Land später unter den Karolingern einen
Theil des großen germanischen Weltreichs ausmachte. Der Bertrag von
Verdun theilte dasselbe bekanntermaßen in Ostfravken (Deutschland), West¬
franken (Frankreich) und Lothringen unter die drei Enkel Karl's des Großen.
Hiermit erst beginnt die französische Geschichte im eigentlichen Sinne,
denn unter den Karolingern ist die Geschichte dieses Landes untrennbar mit
der deutschen Geschichte verbunden, und was vorhergeht, ist entweder Special-
geschichte der germanischen Stämme in den eroberten Provinzen des römi¬
schen Galliens oder aber Geschichte der unterworfenen römischen Gallier.
Was also dem Bertrage von Verdun vorhergeht, müßten die französischen
Historiker, wenn anders sie logisch verfahren wollen, als Vorgeschichte ihres
Landes behandeln. Aus einer Vorgeschichte aber unveräußerliche Rechte her¬
leiten zu wollen, ist ebenso unverschämt als absurd**).




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Mit ganz demselben oder viel größerem Rechte könnte nach dieser Logik Deutschland
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/13>, abgerufen am 15.05.2024.