Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

In einer persischen Erzählung gewinnt eine Zauberin durch einen Ring
die Gestalt der Gemahlin eines Königs, und er bricht den Zauber, indem
er ihr die Hand abhaut, worauf sie als abscheuliche Hexe vor ihm steht.
Bekannt ist die bedeutende Rolle, die in den Märchen von "Tausend und
eine Nacht" der Ring Aladdins spielt. Die Romanzen und Epen des Mittel,
alters gedenken an vielen Stellen der geheimnißvollen Kräfte wunderthätiger
Ringe. In der Geschichte von "OZier 1<z vümois" giebt die Fee Morgana
diesem Helden einen Ring, der ihn, obwohl er bereits hundert Jahre alt ist,
wie ein Dreißiger aussehen läßt. Nach Verlauf von zweihundert Jahren
erscheint Ogier am französischen Hofe, wo die alte Gräfin von sentis das
Geheimniß seiner Verjüngung erräth und ihm unbemerkt den Ring vom
Finger zieht, worauf sie ihn sich ansteckt. Sie wird dadurch sofort zu einer
jugendfrischem Schönheit, wogegen der Beraubte sich in einen gebrechlichen
Urgreis verwandelt. In Chaucer's "Fguires 1g>Is" ist an einen Ring, den
die Tochter des Königs Cambusean besitzt, die Gabe geknüpft, die Sprache
der Vögel zu verstehen und die Kräfte aller Pflanzen zu erkennen. In dem
Roman "?^g,in s,na Ga^aus", der unter Heinrich dem Sechsten verfaßt zu
sein scheint, befreit eine Dame den Ritter aus dem Kerker und schenkt ihm
einen Ring, der ihn vor allen Gefahren schützen und unsichtbar machen soll.
In den "6estl>. Romanorum" giebt ein Vater, der im Sterben liegt, seinem
Sohne einen Ring, der seinen Träger bei allen Menschen beliebt macht. In
derselben Sagensammlung heirathet der Kaiser Vespasian in fernem Lande
ein Weib, die sich weigert, ihm nach Rom zu folgen, und sich zu tödten droht,
wenn er sie verlasse. In diesem Dilemma läßt der Kaiser zwei Ringe mit
wunderbaren Eigenschaften machen, von denen der eine auf einem kostbaren
Steine die Figur der Vergeßlichkeit, der andere die der Erinnerung zeigt.
Jenen schenkt er der Kaiserin, diesen behält er für sich. Ebendaselbst vererbt
Darius seinem jüngsten Sohne einen Mantel, ein Halsband und einen Ring;
der Mantel versetzt seinen Besitzer dahin, wohin er sich wünscht, das Halsband
verschafft ihm alles, wonach sein Herz begehrt, der Ring endlich gewinnt ihm
die Liebe und Gunst aller Menschen.

In der Geschichte von der schönen Melusine giebt diese, als sie das
Haus ihres Gatten verläßt, ihm zwei Ringe, die ihn unüberwindlich in der
Schlacht und im Rathe und gefeit gegen alle Waffen machen. Einen ähn¬
lichen Ring schenkt im "Kleinen Rosengarten" Dame Sinne ihrem Bruder
Dietlieb. Orlando's "InÄmorats." erzählt von einem Ringe, der Angelica,
als sie ihn küßt, vor Rogeros Blicken verschwinden läßt. In "I'Joll'ö et
vlMeeSor" sagt die letztere zu ihrem Geliebten, indem sie ihm einen Ring
überreicht: "Floire, nimm dieß als ein Zeichen unsrer gegenseitigen Liebe hin,
sieh ihn jeden Tag an; wenn du findest, daß sein Glanz erblichen ist, so ist


In einer persischen Erzählung gewinnt eine Zauberin durch einen Ring
die Gestalt der Gemahlin eines Königs, und er bricht den Zauber, indem
er ihr die Hand abhaut, worauf sie als abscheuliche Hexe vor ihm steht.
Bekannt ist die bedeutende Rolle, die in den Märchen von „Tausend und
eine Nacht" der Ring Aladdins spielt. Die Romanzen und Epen des Mittel,
alters gedenken an vielen Stellen der geheimnißvollen Kräfte wunderthätiger
Ringe. In der Geschichte von „OZier 1<z vümois" giebt die Fee Morgana
diesem Helden einen Ring, der ihn, obwohl er bereits hundert Jahre alt ist,
wie ein Dreißiger aussehen läßt. Nach Verlauf von zweihundert Jahren
erscheint Ogier am französischen Hofe, wo die alte Gräfin von sentis das
Geheimniß seiner Verjüngung erräth und ihm unbemerkt den Ring vom
Finger zieht, worauf sie ihn sich ansteckt. Sie wird dadurch sofort zu einer
jugendfrischem Schönheit, wogegen der Beraubte sich in einen gebrechlichen
Urgreis verwandelt. In Chaucer's „Fguires 1g>Is" ist an einen Ring, den
die Tochter des Königs Cambusean besitzt, die Gabe geknüpft, die Sprache
der Vögel zu verstehen und die Kräfte aller Pflanzen zu erkennen. In dem
Roman „?^g,in s,na Ga^aus", der unter Heinrich dem Sechsten verfaßt zu
sein scheint, befreit eine Dame den Ritter aus dem Kerker und schenkt ihm
einen Ring, der ihn vor allen Gefahren schützen und unsichtbar machen soll.
In den „6estl>. Romanorum" giebt ein Vater, der im Sterben liegt, seinem
Sohne einen Ring, der seinen Träger bei allen Menschen beliebt macht. In
derselben Sagensammlung heirathet der Kaiser Vespasian in fernem Lande
ein Weib, die sich weigert, ihm nach Rom zu folgen, und sich zu tödten droht,
wenn er sie verlasse. In diesem Dilemma läßt der Kaiser zwei Ringe mit
wunderbaren Eigenschaften machen, von denen der eine auf einem kostbaren
Steine die Figur der Vergeßlichkeit, der andere die der Erinnerung zeigt.
Jenen schenkt er der Kaiserin, diesen behält er für sich. Ebendaselbst vererbt
Darius seinem jüngsten Sohne einen Mantel, ein Halsband und einen Ring;
der Mantel versetzt seinen Besitzer dahin, wohin er sich wünscht, das Halsband
verschafft ihm alles, wonach sein Herz begehrt, der Ring endlich gewinnt ihm
die Liebe und Gunst aller Menschen.

In der Geschichte von der schönen Melusine giebt diese, als sie das
Haus ihres Gatten verläßt, ihm zwei Ringe, die ihn unüberwindlich in der
Schlacht und im Rathe und gefeit gegen alle Waffen machen. Einen ähn¬
lichen Ring schenkt im „Kleinen Rosengarten" Dame Sinne ihrem Bruder
Dietlieb. Orlando's „InÄmorats." erzählt von einem Ringe, der Angelica,
als sie ihn küßt, vor Rogeros Blicken verschwinden läßt. In „I'Joll'ö et
vlMeeSor" sagt die letztere zu ihrem Geliebten, indem sie ihm einen Ring
überreicht: „Floire, nimm dieß als ein Zeichen unsrer gegenseitigen Liebe hin,
sieh ihn jeden Tag an; wenn du findest, daß sein Glanz erblichen ist, so ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136850"/>
          <p xml:id="ID_574"> In einer persischen Erzählung gewinnt eine Zauberin durch einen Ring<lb/>
die Gestalt der Gemahlin eines Königs, und er bricht den Zauber, indem<lb/>
er ihr die Hand abhaut, worauf sie als abscheuliche Hexe vor ihm steht.<lb/>
Bekannt ist die bedeutende Rolle, die in den Märchen von &#x201E;Tausend und<lb/>
eine Nacht" der Ring Aladdins spielt. Die Romanzen und Epen des Mittel,<lb/>
alters gedenken an vielen Stellen der geheimnißvollen Kräfte wunderthätiger<lb/>
Ringe. In der Geschichte von &#x201E;OZier 1&lt;z vümois" giebt die Fee Morgana<lb/>
diesem Helden einen Ring, der ihn, obwohl er bereits hundert Jahre alt ist,<lb/>
wie ein Dreißiger aussehen läßt. Nach Verlauf von zweihundert Jahren<lb/>
erscheint Ogier am französischen Hofe, wo die alte Gräfin von sentis das<lb/>
Geheimniß seiner Verjüngung erräth und ihm unbemerkt den Ring vom<lb/>
Finger zieht, worauf sie ihn sich ansteckt. Sie wird dadurch sofort zu einer<lb/>
jugendfrischem Schönheit, wogegen der Beraubte sich in einen gebrechlichen<lb/>
Urgreis verwandelt. In Chaucer's &#x201E;Fguires 1g&gt;Is" ist an einen Ring, den<lb/>
die Tochter des Königs Cambusean besitzt, die Gabe geknüpft, die Sprache<lb/>
der Vögel zu verstehen und die Kräfte aller Pflanzen zu erkennen. In dem<lb/>
Roman &#x201E;?^g,in s,na Ga^aus", der unter Heinrich dem Sechsten verfaßt zu<lb/>
sein scheint, befreit eine Dame den Ritter aus dem Kerker und schenkt ihm<lb/>
einen Ring, der ihn vor allen Gefahren schützen und unsichtbar machen soll.<lb/>
In den &#x201E;6estl&gt;. Romanorum" giebt ein Vater, der im Sterben liegt, seinem<lb/>
Sohne einen Ring, der seinen Träger bei allen Menschen beliebt macht. In<lb/>
derselben Sagensammlung heirathet der Kaiser Vespasian in fernem Lande<lb/>
ein Weib, die sich weigert, ihm nach Rom zu folgen, und sich zu tödten droht,<lb/>
wenn er sie verlasse. In diesem Dilemma läßt der Kaiser zwei Ringe mit<lb/>
wunderbaren Eigenschaften machen, von denen der eine auf einem kostbaren<lb/>
Steine die Figur der Vergeßlichkeit, der andere die der Erinnerung zeigt.<lb/>
Jenen schenkt er der Kaiserin, diesen behält er für sich. Ebendaselbst vererbt<lb/>
Darius seinem jüngsten Sohne einen Mantel, ein Halsband und einen Ring;<lb/>
der Mantel versetzt seinen Besitzer dahin, wohin er sich wünscht, das Halsband<lb/>
verschafft ihm alles, wonach sein Herz begehrt, der Ring endlich gewinnt ihm<lb/>
die Liebe und Gunst aller Menschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_575" next="#ID_576"> In der Geschichte von der schönen Melusine giebt diese, als sie das<lb/>
Haus ihres Gatten verläßt, ihm zwei Ringe, die ihn unüberwindlich in der<lb/>
Schlacht und im Rathe und gefeit gegen alle Waffen machen. Einen ähn¬<lb/>
lichen Ring schenkt im &#x201E;Kleinen Rosengarten" Dame Sinne ihrem Bruder<lb/>
Dietlieb. Orlando's &#x201E;InÄmorats." erzählt von einem Ringe, der Angelica,<lb/>
als sie ihn küßt, vor Rogeros Blicken verschwinden läßt. In &#x201E;I'Joll'ö et<lb/>
vlMeeSor" sagt die letztere zu ihrem Geliebten, indem sie ihm einen Ring<lb/>
überreicht: &#x201E;Floire, nimm dieß als ein Zeichen unsrer gegenseitigen Liebe hin,<lb/>
sieh ihn jeden Tag an; wenn du findest, daß sein Glanz erblichen ist, so ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0211] In einer persischen Erzählung gewinnt eine Zauberin durch einen Ring die Gestalt der Gemahlin eines Königs, und er bricht den Zauber, indem er ihr die Hand abhaut, worauf sie als abscheuliche Hexe vor ihm steht. Bekannt ist die bedeutende Rolle, die in den Märchen von „Tausend und eine Nacht" der Ring Aladdins spielt. Die Romanzen und Epen des Mittel, alters gedenken an vielen Stellen der geheimnißvollen Kräfte wunderthätiger Ringe. In der Geschichte von „OZier 1<z vümois" giebt die Fee Morgana diesem Helden einen Ring, der ihn, obwohl er bereits hundert Jahre alt ist, wie ein Dreißiger aussehen läßt. Nach Verlauf von zweihundert Jahren erscheint Ogier am französischen Hofe, wo die alte Gräfin von sentis das Geheimniß seiner Verjüngung erräth und ihm unbemerkt den Ring vom Finger zieht, worauf sie ihn sich ansteckt. Sie wird dadurch sofort zu einer jugendfrischem Schönheit, wogegen der Beraubte sich in einen gebrechlichen Urgreis verwandelt. In Chaucer's „Fguires 1g>Is" ist an einen Ring, den die Tochter des Königs Cambusean besitzt, die Gabe geknüpft, die Sprache der Vögel zu verstehen und die Kräfte aller Pflanzen zu erkennen. In dem Roman „?^g,in s,na Ga^aus", der unter Heinrich dem Sechsten verfaßt zu sein scheint, befreit eine Dame den Ritter aus dem Kerker und schenkt ihm einen Ring, der ihn vor allen Gefahren schützen und unsichtbar machen soll. In den „6estl>. Romanorum" giebt ein Vater, der im Sterben liegt, seinem Sohne einen Ring, der seinen Träger bei allen Menschen beliebt macht. In derselben Sagensammlung heirathet der Kaiser Vespasian in fernem Lande ein Weib, die sich weigert, ihm nach Rom zu folgen, und sich zu tödten droht, wenn er sie verlasse. In diesem Dilemma läßt der Kaiser zwei Ringe mit wunderbaren Eigenschaften machen, von denen der eine auf einem kostbaren Steine die Figur der Vergeßlichkeit, der andere die der Erinnerung zeigt. Jenen schenkt er der Kaiserin, diesen behält er für sich. Ebendaselbst vererbt Darius seinem jüngsten Sohne einen Mantel, ein Halsband und einen Ring; der Mantel versetzt seinen Besitzer dahin, wohin er sich wünscht, das Halsband verschafft ihm alles, wonach sein Herz begehrt, der Ring endlich gewinnt ihm die Liebe und Gunst aller Menschen. In der Geschichte von der schönen Melusine giebt diese, als sie das Haus ihres Gatten verläßt, ihm zwei Ringe, die ihn unüberwindlich in der Schlacht und im Rathe und gefeit gegen alle Waffen machen. Einen ähn¬ lichen Ring schenkt im „Kleinen Rosengarten" Dame Sinne ihrem Bruder Dietlieb. Orlando's „InÄmorats." erzählt von einem Ringe, der Angelica, als sie ihn küßt, vor Rogeros Blicken verschwinden läßt. In „I'Joll'ö et vlMeeSor" sagt die letztere zu ihrem Geliebten, indem sie ihm einen Ring überreicht: „Floire, nimm dieß als ein Zeichen unsrer gegenseitigen Liebe hin, sieh ihn jeden Tag an; wenn du findest, daß sein Glanz erblichen ist, so ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/211
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/211>, abgerufen am 05.06.2024.