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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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hat sich in Straßburg eine bedeutende Revolution vollzogen und zwar auf
politischem, socialem und volkswirtschaftlichen Gebiete. Aus einer bischöf¬
lichen Stadt ist Straßburg zu einer freien Reichsstadt herangewachsen; aus
einem agrarischen Orte hat sich Straßburg zu einem blühenden Emporium
emporgeschwungen; aus einer unbedeutenden Oertlichkeit, die im 10. Jahr¬
hundert kaum 600 Seelen in sich faßte, ist sie eine wichtige Handelsstadt von
80,000 Einwohnern geworden. Auch ihre Verfassung hat eine Umgestaltung
erfahren: neben dem stolzen Patrizier, dem ehemaligen bischöflichen Ministe¬
rialen, begegnen wir im Rathe der Väter der Stadt auch dem gewichtigen
Kaufherrn und dem wohlhabenden Handwerker, an den in späteren
Zeiten das Regiment übergehen wird. Diese große sociale und volkswirth-
schaftliche Umgestaltung der Dinge fand, wie im übrigen Deutschland, so
auch in Straßburg, von 1150--1300 statt und bezeichnet eine hohe Blüthezeit
der Straßburger Geschichte.

Es bleibt uns nach dieser gedrängten Uebersicht über die Abhandlung
von Prof. Schmoller nur wenig zu bemerken übrig. Eines nur möchten
wir hervorheben, daß unsers Bedünkens die statistischen Ziffern zu niedrig ge¬
griffen sind. Wir wollen zugeben, daß zu Ende des 9. Jahrhunderts die
Zahl der Bewohner des alten Argentoratum 1000--1600 Seelen nicht über¬
schritten habe, obwohl wir auch hier ein Bedenken nicht unterdrücken können --
sagt doch der Dichter Ermoldus Siegellus, der im Jahr 824 zu Straßburg
in der Verbannung lebte, daß deren Schifffahrt, Holz" und Weinhandel be¬
deutend sei;-- daß aber, um die Mitte des 12. Jahrhunderts, dieselbe sich nur
auf 4--6000 Seelen belaufen habe, möchten wir stark bezweifeln. Fällt doch
gerade in jene Zeit der gewaltige Münsterbau, an welchem Hunderte von
Steinmetzen und Tausende von Handlangern thätig waren, und der auch für
Handel und Verkehr, für vinetg, et navigis, von hoher Bedeutung war!
Auch eine spätere statistische Angabe, die besagt, daß bei der Kapitulation von
Straßburg im I. 1681 die Stadt nur eine Bevölkerung von 22,121 Men¬
schen gezählt habe, ist trotz der Behauptung des elsässischen Schriftstellers,
Friedr. Karl Heitz, des bekannten Sammlers, den der Verfasser als Gewährs¬
mann anführt, doch nicht über jeden Zweifel erhaben und scheint uns gleich¬
falls zu gering angeschlagen zu sein.

Die zweite Monographie Schmoller's, die gleichfalls als Rectoratsrede
erschien,, schildert uns eine der interessantesten Perioden der früheren Stra߬
burger Geschichte, nämlich die Entstehung des Zunftwesens und die Zunst-
kämpfe in der alten Reichsstadt im vierzehnten Jahrhundert, sowie die Um¬
gestaltung der städtischen Verhältnisse in Verfassung und Verwaltung im
fünfzehnten. Ueber das ehemalige Zunftwesen in Straßburg war bisher
wenig Genaues bekannt; wohl hatte der bekannte elsässtsche Sammler Fnedr.


hat sich in Straßburg eine bedeutende Revolution vollzogen und zwar auf
politischem, socialem und volkswirtschaftlichen Gebiete. Aus einer bischöf¬
lichen Stadt ist Straßburg zu einer freien Reichsstadt herangewachsen; aus
einem agrarischen Orte hat sich Straßburg zu einem blühenden Emporium
emporgeschwungen; aus einer unbedeutenden Oertlichkeit, die im 10. Jahr¬
hundert kaum 600 Seelen in sich faßte, ist sie eine wichtige Handelsstadt von
80,000 Einwohnern geworden. Auch ihre Verfassung hat eine Umgestaltung
erfahren: neben dem stolzen Patrizier, dem ehemaligen bischöflichen Ministe¬
rialen, begegnen wir im Rathe der Väter der Stadt auch dem gewichtigen
Kaufherrn und dem wohlhabenden Handwerker, an den in späteren
Zeiten das Regiment übergehen wird. Diese große sociale und volkswirth-
schaftliche Umgestaltung der Dinge fand, wie im übrigen Deutschland, so
auch in Straßburg, von 1150—1300 statt und bezeichnet eine hohe Blüthezeit
der Straßburger Geschichte.

Es bleibt uns nach dieser gedrängten Uebersicht über die Abhandlung
von Prof. Schmoller nur wenig zu bemerken übrig. Eines nur möchten
wir hervorheben, daß unsers Bedünkens die statistischen Ziffern zu niedrig ge¬
griffen sind. Wir wollen zugeben, daß zu Ende des 9. Jahrhunderts die
Zahl der Bewohner des alten Argentoratum 1000—1600 Seelen nicht über¬
schritten habe, obwohl wir auch hier ein Bedenken nicht unterdrücken können —
sagt doch der Dichter Ermoldus Siegellus, der im Jahr 824 zu Straßburg
in der Verbannung lebte, daß deren Schifffahrt, Holz» und Weinhandel be¬
deutend sei;— daß aber, um die Mitte des 12. Jahrhunderts, dieselbe sich nur
auf 4—6000 Seelen belaufen habe, möchten wir stark bezweifeln. Fällt doch
gerade in jene Zeit der gewaltige Münsterbau, an welchem Hunderte von
Steinmetzen und Tausende von Handlangern thätig waren, und der auch für
Handel und Verkehr, für vinetg, et navigis, von hoher Bedeutung war!
Auch eine spätere statistische Angabe, die besagt, daß bei der Kapitulation von
Straßburg im I. 1681 die Stadt nur eine Bevölkerung von 22,121 Men¬
schen gezählt habe, ist trotz der Behauptung des elsässischen Schriftstellers,
Friedr. Karl Heitz, des bekannten Sammlers, den der Verfasser als Gewährs¬
mann anführt, doch nicht über jeden Zweifel erhaben und scheint uns gleich¬
falls zu gering angeschlagen zu sein.

Die zweite Monographie Schmoller's, die gleichfalls als Rectoratsrede
erschien,, schildert uns eine der interessantesten Perioden der früheren Stra߬
burger Geschichte, nämlich die Entstehung des Zunftwesens und die Zunst-
kämpfe in der alten Reichsstadt im vierzehnten Jahrhundert, sowie die Um¬
gestaltung der städtischen Verhältnisse in Verfassung und Verwaltung im
fünfzehnten. Ueber das ehemalige Zunftwesen in Straßburg war bisher
wenig Genaues bekannt; wohl hatte der bekannte elsässtsche Sammler Fnedr.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/48>, abgerufen am 15.05.2024.