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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Eigil antwortete: "Herr, ich will nicht gegen euch lügen; wenn ich den
Knaben mit dem ersten getroffen hätte, so waren die beiden andern euch zu¬
gedacht." Die Umstehenden meinten, er habe wie ein Biedermann gesprochen,
auch der König nahm seine Rede gut auf und reihte ihn unter seine Mann¬
schaft ein. Als Wieland dann, nachdem er die Tochter des Königs betrunken
gemacht und geschändet und dessen beide Söhne ermordet hatte, entfloh,
und Nidung von der höchsten Schloßzinne herab verhöhnte, gebot der
König Eigil, nach ihm zu schießen. Eigil that, wie ihm geheißen, und traf
nach Verabredung mit seinem Bruder eine Blase, die dieser mit dem Blute
der Königssöhne gefüllt und sich unter den linken Arm gebunden hatte, so
daß der grausame König sehen mußte, wie das Blut seiner Kinder zum
zweiten Male floß. Er starb bald darauf vor Kummer. Wieland aber floh
heim nach Seeland.

Diese Erzählung kam, nach dem ausdrücklichen Berichte der Wilkinasage,
aus dem Munde deutscher Männer aus Münster, Soest und Bremen an
reisende Skandinavier, wurde von diesen gegen die Mitte des dreizehnten
Jahrhunderts aufgezeichnet und gelangte später in ihrer altnordischen Fassung
nach Deutschland zurück, weshalb man sie gewöhnlich für skandinavischen
Ursprungs hielt. Ihre deutsche Herkunft aber wird nicht blos durch das Obige
bezeugt, sondern auch durch Hunderte altgeschichtlicher Personen- und Orts¬
namen, von denen Rochholz eine Anzahl anführt. Nicht nur die Wielande
und Eigilone. auch der heute befremdlicher klingende Name der Geschlechter
Orendel treten in oberdeutschen Urkunden frühzeitig und reichlich auf. Der
Mythus vom Schützen Eigil ist also in uralter Zeit nicht blos in Nteder-
deutschland, sondern auch am Rhein und Main, an der Donau und am
Bodensee und ebenso auch in der Schweiz bekannt gewesen.

Verwandt hiermit, aber der schweizerischen Tellsage noch näher stehend,
ist die Erzählung vom Schützen Toko, ,die wir in der Histvii" danieg, des
Sazco Grammaticus antreffen. Saxo schrieb im letzten Viertel des zwölften
Jahrhunderts ' und verlegt die erwähnte Erzählung in das zehnte. Er
erzählt:

Ein Krieger Toko hatte einige Zeit in des Dänenkönigs Harald Blauzahn
Diensten gestanden, durch seine Leistungen die seiner Gesellen überboten und
sich damit viele Neider gemacht. Als er nun einmal bei einem Gelage, schon
etwas angetrunken, sich brüstete, er sei ein so geübter Schütze, daß er den
allerkletnsten Apfel, draußen auf einen Stock gesteckt, mit dem ersten Schusse
herabholen wolle, brachten die Horcher dies Wort dem König zu Ohren und
dieser war grausam genug, des Mannes vermessene Rede zu dessen Söhnleins
Lebensgesährdung zu mißbrauchen. Er befahl, statt des besagten Stockes solle
Tokos Kind, dieses theuerste Pfand der Vaterliebe, als Ziel hinausgestellt


Eigil antwortete: „Herr, ich will nicht gegen euch lügen; wenn ich den
Knaben mit dem ersten getroffen hätte, so waren die beiden andern euch zu¬
gedacht." Die Umstehenden meinten, er habe wie ein Biedermann gesprochen,
auch der König nahm seine Rede gut auf und reihte ihn unter seine Mann¬
schaft ein. Als Wieland dann, nachdem er die Tochter des Königs betrunken
gemacht und geschändet und dessen beide Söhne ermordet hatte, entfloh,
und Nidung von der höchsten Schloßzinne herab verhöhnte, gebot der
König Eigil, nach ihm zu schießen. Eigil that, wie ihm geheißen, und traf
nach Verabredung mit seinem Bruder eine Blase, die dieser mit dem Blute
der Königssöhne gefüllt und sich unter den linken Arm gebunden hatte, so
daß der grausame König sehen mußte, wie das Blut seiner Kinder zum
zweiten Male floß. Er starb bald darauf vor Kummer. Wieland aber floh
heim nach Seeland.

Diese Erzählung kam, nach dem ausdrücklichen Berichte der Wilkinasage,
aus dem Munde deutscher Männer aus Münster, Soest und Bremen an
reisende Skandinavier, wurde von diesen gegen die Mitte des dreizehnten
Jahrhunderts aufgezeichnet und gelangte später in ihrer altnordischen Fassung
nach Deutschland zurück, weshalb man sie gewöhnlich für skandinavischen
Ursprungs hielt. Ihre deutsche Herkunft aber wird nicht blos durch das Obige
bezeugt, sondern auch durch Hunderte altgeschichtlicher Personen- und Orts¬
namen, von denen Rochholz eine Anzahl anführt. Nicht nur die Wielande
und Eigilone. auch der heute befremdlicher klingende Name der Geschlechter
Orendel treten in oberdeutschen Urkunden frühzeitig und reichlich auf. Der
Mythus vom Schützen Eigil ist also in uralter Zeit nicht blos in Nteder-
deutschland, sondern auch am Rhein und Main, an der Donau und am
Bodensee und ebenso auch in der Schweiz bekannt gewesen.

Verwandt hiermit, aber der schweizerischen Tellsage noch näher stehend,
ist die Erzählung vom Schützen Toko, ,die wir in der Histvii» danieg, des
Sazco Grammaticus antreffen. Saxo schrieb im letzten Viertel des zwölften
Jahrhunderts ' und verlegt die erwähnte Erzählung in das zehnte. Er
erzählt:

Ein Krieger Toko hatte einige Zeit in des Dänenkönigs Harald Blauzahn
Diensten gestanden, durch seine Leistungen die seiner Gesellen überboten und
sich damit viele Neider gemacht. Als er nun einmal bei einem Gelage, schon
etwas angetrunken, sich brüstete, er sei ein so geübter Schütze, daß er den
allerkletnsten Apfel, draußen auf einen Stock gesteckt, mit dem ersten Schusse
herabholen wolle, brachten die Horcher dies Wort dem König zu Ohren und
dieser war grausam genug, des Mannes vermessene Rede zu dessen Söhnleins
Lebensgesährdung zu mißbrauchen. Er befahl, statt des besagten Stockes solle
Tokos Kind, dieses theuerste Pfand der Vaterliebe, als Ziel hinausgestellt


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[0088] Eigil antwortete: „Herr, ich will nicht gegen euch lügen; wenn ich den Knaben mit dem ersten getroffen hätte, so waren die beiden andern euch zu¬ gedacht." Die Umstehenden meinten, er habe wie ein Biedermann gesprochen, auch der König nahm seine Rede gut auf und reihte ihn unter seine Mann¬ schaft ein. Als Wieland dann, nachdem er die Tochter des Königs betrunken gemacht und geschändet und dessen beide Söhne ermordet hatte, entfloh, und Nidung von der höchsten Schloßzinne herab verhöhnte, gebot der König Eigil, nach ihm zu schießen. Eigil that, wie ihm geheißen, und traf nach Verabredung mit seinem Bruder eine Blase, die dieser mit dem Blute der Königssöhne gefüllt und sich unter den linken Arm gebunden hatte, so daß der grausame König sehen mußte, wie das Blut seiner Kinder zum zweiten Male floß. Er starb bald darauf vor Kummer. Wieland aber floh heim nach Seeland. Diese Erzählung kam, nach dem ausdrücklichen Berichte der Wilkinasage, aus dem Munde deutscher Männer aus Münster, Soest und Bremen an reisende Skandinavier, wurde von diesen gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts aufgezeichnet und gelangte später in ihrer altnordischen Fassung nach Deutschland zurück, weshalb man sie gewöhnlich für skandinavischen Ursprungs hielt. Ihre deutsche Herkunft aber wird nicht blos durch das Obige bezeugt, sondern auch durch Hunderte altgeschichtlicher Personen- und Orts¬ namen, von denen Rochholz eine Anzahl anführt. Nicht nur die Wielande und Eigilone. auch der heute befremdlicher klingende Name der Geschlechter Orendel treten in oberdeutschen Urkunden frühzeitig und reichlich auf. Der Mythus vom Schützen Eigil ist also in uralter Zeit nicht blos in Nteder- deutschland, sondern auch am Rhein und Main, an der Donau und am Bodensee und ebenso auch in der Schweiz bekannt gewesen. Verwandt hiermit, aber der schweizerischen Tellsage noch näher stehend, ist die Erzählung vom Schützen Toko, ,die wir in der Histvii» danieg, des Sazco Grammaticus antreffen. Saxo schrieb im letzten Viertel des zwölften Jahrhunderts ' und verlegt die erwähnte Erzählung in das zehnte. Er erzählt: Ein Krieger Toko hatte einige Zeit in des Dänenkönigs Harald Blauzahn Diensten gestanden, durch seine Leistungen die seiner Gesellen überboten und sich damit viele Neider gemacht. Als er nun einmal bei einem Gelage, schon etwas angetrunken, sich brüstete, er sei ein so geübter Schütze, daß er den allerkletnsten Apfel, draußen auf einen Stock gesteckt, mit dem ersten Schusse herabholen wolle, brachten die Horcher dies Wort dem König zu Ohren und dieser war grausam genug, des Mannes vermessene Rede zu dessen Söhnleins Lebensgesährdung zu mißbrauchen. Er befahl, statt des besagten Stockes solle Tokos Kind, dieses theuerste Pfand der Vaterliebe, als Ziel hinausgestellt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/88>, abgerufen am 29.05.2024.