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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Sprachliche Neubildungen,

einmal ausgesprochen werden ^ ein bloßes Märchen, welches sich aus einer
deutschen Literaturgeschichte in die andre schleppt, daß die deutsche Sprache zu
keiner Zeit mehr durch Fremdwörter entstellt gewesen sei als im 17. und zu An¬
fänge des 18, Jahrhunderts; sie ist es gegenwärtig, wie sich durch Zahlen be¬
weisen ließe, in weit höherm Grade als damals. Man nehme die erste beste
Flugschrift aus dem dreißigjährigen Kriege, also aus der Zeit, wo angeblich unsre
Sprache am verwildertsten war, zur Hand, vergleiche sie mit der ersten besten
Berliner Zeitungsnummer von 1881 und zähle die Fremdwörter, d. h. diejenigen
Wörter, die jeder gebildete und sprachkundige Leser als Fremdwörter empfindet,
man wird erstaunen über die wesentlich größere Höhe ihres Procentsatzes in der
Gegenwart. Was in der Sprache des 17, und 18, Jahrhunderts auffällt und
wodurch die meisten sich täuschen lassen, das sind zwei Unistände. Erstens hatte
die Sprache damals andre Fremdwörter als heute; die damals gebräuchliche"
sind freilich zum größten Theile jetzt verschwunden, und so erregen sie unsre
Heiterkeit, aber sie sind reichlich durch doppelt so viel andre ersetzt worden, über
die ein Perrückenträger aus dem 17. Jahrhundert wahrscheinlich ebenso lachen
würde wie wir über die seinigen. Zweitens schrieb und druckte man damals die
Fremdwörter mitten in der deutschen Sprache mit lateinischen Buchstaben, so daß
sie uns beim Lesen alter Drucke in besonders auffälliger Weise in die Augen
springen; die unzähligen Zeitwörter, die mit der romanischen Endung -iren ge¬
bildet waren, schrieb und druckte man sogar mit gemischter Schrift, den Stamm
mit lateinischen, die Endung mit deutschen Buchstaben (rsKÄrcliren, eg-ti^iren,
souIgH'iren). Wollten wir einen politischen "Leiwrtielv", eine "Concert- oder
Theateroritiaus" von heute mit derselben Schriftmengcrei schreiben und drucken,
die damals üblich war, der Anblick einer modernen Zeitungsnummer würde
weit lächerlicher sein als der einer "Relation" aus dem 17. Jahrhundert,
Wir haben gerade in den letzten Jahrzehnten in diesem Punkte riesige Rück¬
schritte gemacht, und ein neuer Lauremberg oder Moscherosch oder Logan
hätte jetzt reichlichern Stoff zur Satire als vor zwei oder dritthalb hundert
Jahren.

Aber wir brauchen uns nicht auf die Beobachtung der Thatsache zu be¬
schränken, daß im vorigen Jahrhundert noch eine Menge von Wörtern im Ge¬
brauche war, die heute durch andre Wörter verdrängt sind; in vielen Fällen
läßt sich geradezu nachweisen, wann und von wem ein Wort zum ersten Male
gebraucht worden ist. Empfindsam z. B., ein Wort, welches uns so geläufig
ist, daß wir uns kaum vorstellen können, daß es unsrer Sprache jemals gefehlt
habe, ist nicht älter als 113 Jahre; Lessing war es, der es zuerst 1768 gebraucht
hat, und zwar wissen wir genau, wann und bei welcher Gelegenheit, Noch im


Sprachliche Neubildungen,

einmal ausgesprochen werden ^ ein bloßes Märchen, welches sich aus einer
deutschen Literaturgeschichte in die andre schleppt, daß die deutsche Sprache zu
keiner Zeit mehr durch Fremdwörter entstellt gewesen sei als im 17. und zu An¬
fänge des 18, Jahrhunderts; sie ist es gegenwärtig, wie sich durch Zahlen be¬
weisen ließe, in weit höherm Grade als damals. Man nehme die erste beste
Flugschrift aus dem dreißigjährigen Kriege, also aus der Zeit, wo angeblich unsre
Sprache am verwildertsten war, zur Hand, vergleiche sie mit der ersten besten
Berliner Zeitungsnummer von 1881 und zähle die Fremdwörter, d. h. diejenigen
Wörter, die jeder gebildete und sprachkundige Leser als Fremdwörter empfindet,
man wird erstaunen über die wesentlich größere Höhe ihres Procentsatzes in der
Gegenwart. Was in der Sprache des 17, und 18, Jahrhunderts auffällt und
wodurch die meisten sich täuschen lassen, das sind zwei Unistände. Erstens hatte
die Sprache damals andre Fremdwörter als heute; die damals gebräuchliche»
sind freilich zum größten Theile jetzt verschwunden, und so erregen sie unsre
Heiterkeit, aber sie sind reichlich durch doppelt so viel andre ersetzt worden, über
die ein Perrückenträger aus dem 17. Jahrhundert wahrscheinlich ebenso lachen
würde wie wir über die seinigen. Zweitens schrieb und druckte man damals die
Fremdwörter mitten in der deutschen Sprache mit lateinischen Buchstaben, so daß
sie uns beim Lesen alter Drucke in besonders auffälliger Weise in die Augen
springen; die unzähligen Zeitwörter, die mit der romanischen Endung -iren ge¬
bildet waren, schrieb und druckte man sogar mit gemischter Schrift, den Stamm
mit lateinischen, die Endung mit deutschen Buchstaben (rsKÄrcliren, eg-ti^iren,
souIgH'iren). Wollten wir einen politischen „Leiwrtielv", eine „Concert- oder
Theateroritiaus" von heute mit derselben Schriftmengcrei schreiben und drucken,
die damals üblich war, der Anblick einer modernen Zeitungsnummer würde
weit lächerlicher sein als der einer „Relation" aus dem 17. Jahrhundert,
Wir haben gerade in den letzten Jahrzehnten in diesem Punkte riesige Rück¬
schritte gemacht, und ein neuer Lauremberg oder Moscherosch oder Logan
hätte jetzt reichlichern Stoff zur Satire als vor zwei oder dritthalb hundert
Jahren.

Aber wir brauchen uns nicht auf die Beobachtung der Thatsache zu be¬
schränken, daß im vorigen Jahrhundert noch eine Menge von Wörtern im Ge¬
brauche war, die heute durch andre Wörter verdrängt sind; in vielen Fällen
läßt sich geradezu nachweisen, wann und von wem ein Wort zum ersten Male
gebraucht worden ist. Empfindsam z. B., ein Wort, welches uns so geläufig
ist, daß wir uns kaum vorstellen können, daß es unsrer Sprache jemals gefehlt
habe, ist nicht älter als 113 Jahre; Lessing war es, der es zuerst 1768 gebraucht
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[0574] Sprachliche Neubildungen, einmal ausgesprochen werden ^ ein bloßes Märchen, welches sich aus einer deutschen Literaturgeschichte in die andre schleppt, daß die deutsche Sprache zu keiner Zeit mehr durch Fremdwörter entstellt gewesen sei als im 17. und zu An¬ fänge des 18, Jahrhunderts; sie ist es gegenwärtig, wie sich durch Zahlen be¬ weisen ließe, in weit höherm Grade als damals. Man nehme die erste beste Flugschrift aus dem dreißigjährigen Kriege, also aus der Zeit, wo angeblich unsre Sprache am verwildertsten war, zur Hand, vergleiche sie mit der ersten besten Berliner Zeitungsnummer von 1881 und zähle die Fremdwörter, d. h. diejenigen Wörter, die jeder gebildete und sprachkundige Leser als Fremdwörter empfindet, man wird erstaunen über die wesentlich größere Höhe ihres Procentsatzes in der Gegenwart. Was in der Sprache des 17, und 18, Jahrhunderts auffällt und wodurch die meisten sich täuschen lassen, das sind zwei Unistände. Erstens hatte die Sprache damals andre Fremdwörter als heute; die damals gebräuchliche» sind freilich zum größten Theile jetzt verschwunden, und so erregen sie unsre Heiterkeit, aber sie sind reichlich durch doppelt so viel andre ersetzt worden, über die ein Perrückenträger aus dem 17. Jahrhundert wahrscheinlich ebenso lachen würde wie wir über die seinigen. Zweitens schrieb und druckte man damals die Fremdwörter mitten in der deutschen Sprache mit lateinischen Buchstaben, so daß sie uns beim Lesen alter Drucke in besonders auffälliger Weise in die Augen springen; die unzähligen Zeitwörter, die mit der romanischen Endung -iren ge¬ bildet waren, schrieb und druckte man sogar mit gemischter Schrift, den Stamm mit lateinischen, die Endung mit deutschen Buchstaben (rsKÄrcliren, eg-ti^iren, souIgH'iren). Wollten wir einen politischen „Leiwrtielv", eine „Concert- oder Theateroritiaus" von heute mit derselben Schriftmengcrei schreiben und drucken, die damals üblich war, der Anblick einer modernen Zeitungsnummer würde weit lächerlicher sein als der einer „Relation" aus dem 17. Jahrhundert, Wir haben gerade in den letzten Jahrzehnten in diesem Punkte riesige Rück¬ schritte gemacht, und ein neuer Lauremberg oder Moscherosch oder Logan hätte jetzt reichlichern Stoff zur Satire als vor zwei oder dritthalb hundert Jahren. Aber wir brauchen uns nicht auf die Beobachtung der Thatsache zu be¬ schränken, daß im vorigen Jahrhundert noch eine Menge von Wörtern im Ge¬ brauche war, die heute durch andre Wörter verdrängt sind; in vielen Fällen läßt sich geradezu nachweisen, wann und von wem ein Wort zum ersten Male gebraucht worden ist. Empfindsam z. B., ein Wort, welches uns so geläufig ist, daß wir uns kaum vorstellen können, daß es unsrer Sprache jemals gefehlt habe, ist nicht älter als 113 Jahre; Lessing war es, der es zuerst 1768 gebraucht hat, und zwar wissen wir genau, wann und bei welcher Gelegenheit, Noch im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/574>, abgerufen am 09.06.2024.