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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

interessiren, meh durch die Mannichfaltigkeit der Bilder zu unterhalten, euch
durch den Reichthum des poetischen Details zu entzücken. Das ist das Ver¬
gnügen, das er euch darbietet. Im übrigen hält nichts bei ihm Stand, nichts
verkettet sich, Laster und Tugend, Neigungen, Absichten, alles wechselt und ver¬
wandelt sich mit jedem Schritte. Welche graziöse und rasche Bewegung aber,
welcher Wechsel der Formen und Wirkungen, welcher Glanz des Geistes, der
Einbildungskraft, der Poesie, um die Eintönigkeit dieser romantischen Bilder ver¬
gessen zu machen! Gewiß ist dies nicht die Komödie, die uns Moliöre geschaffen
hat; welcher andre aber als Shakespeare würde über diese frivolen und bizarren
Komödien wohl so reiche Schätze haben ausbreiten können?"

In den historischen Tragödien sind es, nach Guizot, nicht die Ereignisse,
um die er sich kümmert, es handelt sich ihm nur um die Personen, welche sie
machen. Nur im Geiste der dramatischen Wahrheit, nicht in dem der historischen
errichtet er sich sein Reich. "Gebt ihm eine Thatsache zur Darstellung auf der
Bühne, so wird er nicht eben genau uach den Umständen fragen, die sie be¬
gleiteten, nach den vielfältigen verschiednen Ursachen, die sie entwickelten. Seine
Einbildungskraft bedarf keines genauen Bildes von Ort und Zeit, noch einer
vollständigen Kenntniß der unendlichen Verschlingungen, aus denen sich das ge-
heimnißvolle Gewebe des Schicksals erzeugt. Das ist nur der Stoff des Dramas,
und in ihm sucht er nicht das Leben desselben. Er nimmt das Ereigniß, wie es ihm
die Berichte überliefern, und von diesem Faden geleitet, steigt er in die Tiefe der
menschlichen Seele hinab. Es ist der Mensch, den er daraus erstehen lassen will.
Es ist der Mensch, den er über das Geheimniß seiner Eindrücke, seiner Vor¬
stellungen und seiner Entschlüsse befragt. Er fragt nicht: "Was hast dn ge¬
than?", sondern: "Wie bist du gemacht? Vou wo stammt der Antheil, den dn
an den Begebenheiten, bei denen ich dir begegne, genommen? Was suchtest dn?
Was konntest du? Wer bist du?" Erkenne ich nur dies, so weiß ich alles,
was mich an deiner Geschichte interessirt."

Dies bezieht jedoch Guizot, wie schon gesagt, nur auf die Historien; bei
den eigentlichen Tragödien verhält es sich nach seiner Meinung ganz anders.
Hier folgt alles einer andern Disposition des Geistes. Kein Vorfall ist isolirt,
keiner dem Grundgedanken des Dramas fremd, keine Verbindung lose oder er¬
zwungen. Die Begebenheiten, welche sich um den Hauptcharakter gruppiren,
stellen sich in der Bedeutung dar, die ihnen der Eindruck giebt, welchen er von
ehren empfangen. Sie sind alle ihm zugewendet, wie sie sich alle von ihm aus
entwickeln. Er ist Anfang und Ende. Mittel und Zweck der Verordnungen
Lottes, die in dieser für den Menschen geschaffenen Welt es gewollt, daß alles
durch die Hände des Menschen entstehen soll, doch nichts nach dessen eigenen
Absichten. Gott braucht den menschlichen Willen, Absichten, die der Mensch
nicht gehabt, zu vollführen, er läßt ihn frei auf ein Ziel gehen, das er doch
selbst nicht erwählt. Der Mensch aber, obschon den Ereignissen preisgegeben,


Shakespeare in Frankreich.

interessiren, meh durch die Mannichfaltigkeit der Bilder zu unterhalten, euch
durch den Reichthum des poetischen Details zu entzücken. Das ist das Ver¬
gnügen, das er euch darbietet. Im übrigen hält nichts bei ihm Stand, nichts
verkettet sich, Laster und Tugend, Neigungen, Absichten, alles wechselt und ver¬
wandelt sich mit jedem Schritte. Welche graziöse und rasche Bewegung aber,
welcher Wechsel der Formen und Wirkungen, welcher Glanz des Geistes, der
Einbildungskraft, der Poesie, um die Eintönigkeit dieser romantischen Bilder ver¬
gessen zu machen! Gewiß ist dies nicht die Komödie, die uns Moliöre geschaffen
hat; welcher andre aber als Shakespeare würde über diese frivolen und bizarren
Komödien wohl so reiche Schätze haben ausbreiten können?"

In den historischen Tragödien sind es, nach Guizot, nicht die Ereignisse,
um die er sich kümmert, es handelt sich ihm nur um die Personen, welche sie
machen. Nur im Geiste der dramatischen Wahrheit, nicht in dem der historischen
errichtet er sich sein Reich. „Gebt ihm eine Thatsache zur Darstellung auf der
Bühne, so wird er nicht eben genau uach den Umständen fragen, die sie be¬
gleiteten, nach den vielfältigen verschiednen Ursachen, die sie entwickelten. Seine
Einbildungskraft bedarf keines genauen Bildes von Ort und Zeit, noch einer
vollständigen Kenntniß der unendlichen Verschlingungen, aus denen sich das ge-
heimnißvolle Gewebe des Schicksals erzeugt. Das ist nur der Stoff des Dramas,
und in ihm sucht er nicht das Leben desselben. Er nimmt das Ereigniß, wie es ihm
die Berichte überliefern, und von diesem Faden geleitet, steigt er in die Tiefe der
menschlichen Seele hinab. Es ist der Mensch, den er daraus erstehen lassen will.
Es ist der Mensch, den er über das Geheimniß seiner Eindrücke, seiner Vor¬
stellungen und seiner Entschlüsse befragt. Er fragt nicht: »Was hast dn ge¬
than?«, sondern: »Wie bist du gemacht? Vou wo stammt der Antheil, den dn
an den Begebenheiten, bei denen ich dir begegne, genommen? Was suchtest dn?
Was konntest du? Wer bist du?« Erkenne ich nur dies, so weiß ich alles,
was mich an deiner Geschichte interessirt."

Dies bezieht jedoch Guizot, wie schon gesagt, nur auf die Historien; bei
den eigentlichen Tragödien verhält es sich nach seiner Meinung ganz anders.
Hier folgt alles einer andern Disposition des Geistes. Kein Vorfall ist isolirt,
keiner dem Grundgedanken des Dramas fremd, keine Verbindung lose oder er¬
zwungen. Die Begebenheiten, welche sich um den Hauptcharakter gruppiren,
stellen sich in der Bedeutung dar, die ihnen der Eindruck giebt, welchen er von
ehren empfangen. Sie sind alle ihm zugewendet, wie sie sich alle von ihm aus
entwickeln. Er ist Anfang und Ende. Mittel und Zweck der Verordnungen
Lottes, die in dieser für den Menschen geschaffenen Welt es gewollt, daß alles
durch die Hände des Menschen entstehen soll, doch nichts nach dessen eigenen
Absichten. Gott braucht den menschlichen Willen, Absichten, die der Mensch
nicht gehabt, zu vollführen, er läßt ihn frei auf ein Ziel gehen, das er doch
selbst nicht erwählt. Der Mensch aber, obschon den Ereignissen preisgegeben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/21>, abgerufen am 15.05.2024.