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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

Verfalle ihrer Dienstbarkeit nicht. Wenn die Ohnmacht sein Zustand ist, so ist
seine Natur doch die Freiheit. Die Empfindungen, Ideen, Entschlüsse, die ihm
von der Außenwelt eingeflößt werden, gehen frei ans ihm selber hervor. Eine
unabhängige Kraft wohnt ihm inne, die die Herrschaft von sich abwehrt und
ihr trotzt, der sein Schicksal jedoch unterworfen ist. So stehts um die Welt!
Das ist der Begriff der Shakespearischen Tragödie. "Gebt diesem Dichter eine
im Dunkel liegende Begebenheit, die er durch eine Reihe mehr oder weniger
bekannter Zwischenfälle zu einem bestimmten Ergebniß hinführen soll, so stellt
er inmitten dieser Thatsachen eine Leidenschaft, .einen Charakter, dem er alle
Fäden der Handlung in die Hand giebt. Die Begebenheiten gehen ihren Gang,
der Mensch beginnt seinen Lauf, er wendet all seine Kraft an, sie von der ein¬
geschlagnen Richtung abzulenken, falls er diese nicht leiden mag; sie zu besiegen,
wenn sie ihn kreuzen; sie zu umgehen, wenn sie ihn bedrängen. Er unterwirft
sie einen Moment seiner Macht, doch nur, um sie sogleich auf dem Wege, den
er ihnen angewiesen, feindlicher wiederzufinden, bis er ihnen endlich erliegt, aber
ganz in dem Kampfe erliegt, in dem sein Schicksal und sein Leben sich brechen."

Wenn man auch diese Ansichten, besonders was das Lustspiel und die
Historie betrifft, ohne Zweifel nicht für erschöpfend halten wird, so sind sie doch
überaus anregend und geistvoll. Sie dringen tiefer in das Wesen und die Eigen¬
thümlichkeit des Shakespearischen Dramas ein, als es bisher irgendwo in Frank¬
reich geschehen war.

Guizot versucht es nun weiter, zu erklären, warum Shakespeare gerade
jetzt wieder eine so große Bedeutung für die Welt zu gewinnen beginne. "Ein
neuer Aufschwung kann nicht bloß alten Erinnerungen zu verdanken sein. Damit
eine alte Epoche neue Früchte tragen könne, muß sie durch eine analoge Be¬
wegung wie die, welche ihr einst ihre Fruchtbarkeit gab, aufs neue befruchtet
werden. Eine solche Bewegung macht sich in Europa jetzt sichtbar, und auch
England beginnt ihre Einwirkungen zu empfinden. Die Romane Walter Sevtts
sind dafür ein Beweis. Aber das, was dieses Land Shakespeare in Bezug auf
diese neue Richtung schuldet, welche sein Theater, wie die übrigen Zweige der
Literatur, jetzt einschlägt, verdankt es ihm nicht allein. In den literarischen Er¬
schütterungen, welche das continentale Europa jetzt aufregen, wendet dieses vor
allem sein Auge auf Shakespeare. Deutschland hat ihn seit langer Zeit mehr
als Muster denn als Führer erwühlt. Der Weg, den es dabei einschlug, führt
aber doch zur Erkenntniß der wahren Reichthümer. Die spanische Literatur,
eine natürliche Frucht der Civilisation, besitzt bereits den ihr eigenthümlichen
ausgeprägten Charakter. Italien und Frankreich allein, die Heimatländer der
modernen Classicität, sind von den ersten Erschütterungen betroffen, welche die
Meinungen erleiden, die sie mit der Strenge der Nothwendigkeit ausgestellt und
mit dem Stolze des Glaubens festgehalten haben. Der Zweifel stellt sich uns
bis jetzt nur als ein Feind dar, dessen Angriffe man zu fürchten beginnt. Es,


Shakespeare in Frankreich.

Verfalle ihrer Dienstbarkeit nicht. Wenn die Ohnmacht sein Zustand ist, so ist
seine Natur doch die Freiheit. Die Empfindungen, Ideen, Entschlüsse, die ihm
von der Außenwelt eingeflößt werden, gehen frei ans ihm selber hervor. Eine
unabhängige Kraft wohnt ihm inne, die die Herrschaft von sich abwehrt und
ihr trotzt, der sein Schicksal jedoch unterworfen ist. So stehts um die Welt!
Das ist der Begriff der Shakespearischen Tragödie. „Gebt diesem Dichter eine
im Dunkel liegende Begebenheit, die er durch eine Reihe mehr oder weniger
bekannter Zwischenfälle zu einem bestimmten Ergebniß hinführen soll, so stellt
er inmitten dieser Thatsachen eine Leidenschaft, .einen Charakter, dem er alle
Fäden der Handlung in die Hand giebt. Die Begebenheiten gehen ihren Gang,
der Mensch beginnt seinen Lauf, er wendet all seine Kraft an, sie von der ein¬
geschlagnen Richtung abzulenken, falls er diese nicht leiden mag; sie zu besiegen,
wenn sie ihn kreuzen; sie zu umgehen, wenn sie ihn bedrängen. Er unterwirft
sie einen Moment seiner Macht, doch nur, um sie sogleich auf dem Wege, den
er ihnen angewiesen, feindlicher wiederzufinden, bis er ihnen endlich erliegt, aber
ganz in dem Kampfe erliegt, in dem sein Schicksal und sein Leben sich brechen."

Wenn man auch diese Ansichten, besonders was das Lustspiel und die
Historie betrifft, ohne Zweifel nicht für erschöpfend halten wird, so sind sie doch
überaus anregend und geistvoll. Sie dringen tiefer in das Wesen und die Eigen¬
thümlichkeit des Shakespearischen Dramas ein, als es bisher irgendwo in Frank¬
reich geschehen war.

Guizot versucht es nun weiter, zu erklären, warum Shakespeare gerade
jetzt wieder eine so große Bedeutung für die Welt zu gewinnen beginne. „Ein
neuer Aufschwung kann nicht bloß alten Erinnerungen zu verdanken sein. Damit
eine alte Epoche neue Früchte tragen könne, muß sie durch eine analoge Be¬
wegung wie die, welche ihr einst ihre Fruchtbarkeit gab, aufs neue befruchtet
werden. Eine solche Bewegung macht sich in Europa jetzt sichtbar, und auch
England beginnt ihre Einwirkungen zu empfinden. Die Romane Walter Sevtts
sind dafür ein Beweis. Aber das, was dieses Land Shakespeare in Bezug auf
diese neue Richtung schuldet, welche sein Theater, wie die übrigen Zweige der
Literatur, jetzt einschlägt, verdankt es ihm nicht allein. In den literarischen Er¬
schütterungen, welche das continentale Europa jetzt aufregen, wendet dieses vor
allem sein Auge auf Shakespeare. Deutschland hat ihn seit langer Zeit mehr
als Muster denn als Führer erwühlt. Der Weg, den es dabei einschlug, führt
aber doch zur Erkenntniß der wahren Reichthümer. Die spanische Literatur,
eine natürliche Frucht der Civilisation, besitzt bereits den ihr eigenthümlichen
ausgeprägten Charakter. Italien und Frankreich allein, die Heimatländer der
modernen Classicität, sind von den ersten Erschütterungen betroffen, welche die
Meinungen erleiden, die sie mit der Strenge der Nothwendigkeit ausgestellt und
mit dem Stolze des Glaubens festgehalten haben. Der Zweifel stellt sich uns
bis jetzt nur als ein Feind dar, dessen Angriffe man zu fürchten beginnt. Es,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/22>, abgerufen am 16.05.2024.