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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

scheint, als ob die Erörterung einen drohenden Charakter zeige und die Unter¬
suchung, indem sie nur zu ergründen strebt, doch zugleich umstürzen müsse. In
dieser Lage zögert man wie in dein Momente, da man zerstören soll, was nicht
wieder ersetzt werden kann; man fürchtet, sich ohne Gesetz zu befinden und nichts
entdecken zu können als die Unzulänglichkeit und Ungesetzmüßigkeit von Prin¬
cipien, ans die man sich ohne Bedenklichkeit zu stützen beliebt hatte."

"Nichts gilt dem Menschen für schön, was seine Wirkung nicht gewissen
Combinationen verdankt, über die der Verstand uns immer Aufschluß zu geben
vermag, wenn unsre Gefühle ihre Macht bestätigt haben. In der Kenntniß und
Anwendung dieser Combinationen besteht alle Kunst. Shakespeare hat seine eignen
gehabt. Es gilt, sie in seinen Werken zu entdecken, die Mittel, deren er sich
dazu bediente, die Ergebnisse, die er damit erstrebte, zu erforschen. Erst dann
werden wir wahrhaft sein System erkannt haben, erst dann werden wir wissen,
bis zu welchem. Punkte es, dem Wesen der dramatischen Kunst nach, in der An¬
wendung auf unsre moderne Gesellschaft noch zu entwickeln ist."

"Die Eindrücke des Menschen den Menschen neu offenbart -- das ist in
Wahrheit die Quelle aller dramatischen Wirkungen. Die Einheit des Eindrucks,
dieses erste Geheimniß der dramatischen Kunst, ist die Seele der großen Con¬
ceptionen Shakespeares gewesen und der instinctive Gegenstand seiner unermüd¬
lichen Thätigkeit, wie sie der Zweck aller systematisch erfundnen Regeln ist. Die
nusschließlichen Parteigänger des classischen Systems haben geglaubt, daß sich
nur mittelst der drei Einheiten zu der Einheit des Eindrucks gelangen lasse.
Shakespeare hat sie durch andre Mittel erreicht. Wenn die Gesetzmäßigkeit dieser
Mittel erkannt wäre, so würde dies die den verschiednen Formen und Regeln
bisher beigelegte Bedeutung verringern, die augenscheinlich mit einer mißbrauchten
Autorität bekleidet sein würden, wenn die Kunst, um ihre Absicht zu erreichen,
die Einschränkung".'", welche sie auferlegt, und welche sie oft eines Theils ihrer
Reichthümer berauben, nicht bedürfen sollte."

"Die mit der Einheit des Eindrucks unerläßlich verbundene Einheit der
Handlung konnte dem Blicke Shakespeares unmöglich entgehen. Wie aber sie
behaupten, fragt man sich, inmitten so vieler bewegter und verwickelter Begeben¬
heiten auf diesem weiten Schauplatze, der so viele Orte und Jahre, alle socialen
Bedingungen und die Entwicklung so vieler Situationen umfaßt? Es ist Shake¬
speare gleichwohl gelungen, weil sich der Dichter immer der fundamentalen Be-
dingungen zu bemächtigen gewußt hat, um den Mittelpunkt des Interesses in
den Mittelpunkt der Handlung zu verlegen."

Gilizot empfahl schließlich das, wie er meinte, zwischen der classischen Tra¬
gödie, welche sich vorzugsweise an die Gelehrten und Vornehmen wendet, und
Zwischen dem nur den Pöbel befriedigenden Melodrama mitten inne liegende
romantische Drama, welches an alle Klassen der Nation gerichtet sei. Welches
die Form dieses Dramas sein werde, wisse er nicht. Der Boden, auf dem es


Gmizboleit IV. 1381. 3
Shakespeare in Frankreich.

scheint, als ob die Erörterung einen drohenden Charakter zeige und die Unter¬
suchung, indem sie nur zu ergründen strebt, doch zugleich umstürzen müsse. In
dieser Lage zögert man wie in dein Momente, da man zerstören soll, was nicht
wieder ersetzt werden kann; man fürchtet, sich ohne Gesetz zu befinden und nichts
entdecken zu können als die Unzulänglichkeit und Ungesetzmüßigkeit von Prin¬
cipien, ans die man sich ohne Bedenklichkeit zu stützen beliebt hatte."

„Nichts gilt dem Menschen für schön, was seine Wirkung nicht gewissen
Combinationen verdankt, über die der Verstand uns immer Aufschluß zu geben
vermag, wenn unsre Gefühle ihre Macht bestätigt haben. In der Kenntniß und
Anwendung dieser Combinationen besteht alle Kunst. Shakespeare hat seine eignen
gehabt. Es gilt, sie in seinen Werken zu entdecken, die Mittel, deren er sich
dazu bediente, die Ergebnisse, die er damit erstrebte, zu erforschen. Erst dann
werden wir wahrhaft sein System erkannt haben, erst dann werden wir wissen,
bis zu welchem. Punkte es, dem Wesen der dramatischen Kunst nach, in der An¬
wendung auf unsre moderne Gesellschaft noch zu entwickeln ist."

„Die Eindrücke des Menschen den Menschen neu offenbart — das ist in
Wahrheit die Quelle aller dramatischen Wirkungen. Die Einheit des Eindrucks,
dieses erste Geheimniß der dramatischen Kunst, ist die Seele der großen Con¬
ceptionen Shakespeares gewesen und der instinctive Gegenstand seiner unermüd¬
lichen Thätigkeit, wie sie der Zweck aller systematisch erfundnen Regeln ist. Die
nusschließlichen Parteigänger des classischen Systems haben geglaubt, daß sich
nur mittelst der drei Einheiten zu der Einheit des Eindrucks gelangen lasse.
Shakespeare hat sie durch andre Mittel erreicht. Wenn die Gesetzmäßigkeit dieser
Mittel erkannt wäre, so würde dies die den verschiednen Formen und Regeln
bisher beigelegte Bedeutung verringern, die augenscheinlich mit einer mißbrauchten
Autorität bekleidet sein würden, wenn die Kunst, um ihre Absicht zu erreichen,
die Einschränkung«.'», welche sie auferlegt, und welche sie oft eines Theils ihrer
Reichthümer berauben, nicht bedürfen sollte."

„Die mit der Einheit des Eindrucks unerläßlich verbundene Einheit der
Handlung konnte dem Blicke Shakespeares unmöglich entgehen. Wie aber sie
behaupten, fragt man sich, inmitten so vieler bewegter und verwickelter Begeben¬
heiten auf diesem weiten Schauplatze, der so viele Orte und Jahre, alle socialen
Bedingungen und die Entwicklung so vieler Situationen umfaßt? Es ist Shake¬
speare gleichwohl gelungen, weil sich der Dichter immer der fundamentalen Be-
dingungen zu bemächtigen gewußt hat, um den Mittelpunkt des Interesses in
den Mittelpunkt der Handlung zu verlegen."

Gilizot empfahl schließlich das, wie er meinte, zwischen der classischen Tra¬
gödie, welche sich vorzugsweise an die Gelehrten und Vornehmen wendet, und
Zwischen dem nur den Pöbel befriedigenden Melodrama mitten inne liegende
romantische Drama, welches an alle Klassen der Nation gerichtet sei. Welches
die Form dieses Dramas sein werde, wisse er nicht. Der Boden, auf dem es


Gmizboleit IV. 1381. 3
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[0023] Shakespeare in Frankreich. scheint, als ob die Erörterung einen drohenden Charakter zeige und die Unter¬ suchung, indem sie nur zu ergründen strebt, doch zugleich umstürzen müsse. In dieser Lage zögert man wie in dein Momente, da man zerstören soll, was nicht wieder ersetzt werden kann; man fürchtet, sich ohne Gesetz zu befinden und nichts entdecken zu können als die Unzulänglichkeit und Ungesetzmüßigkeit von Prin¬ cipien, ans die man sich ohne Bedenklichkeit zu stützen beliebt hatte." „Nichts gilt dem Menschen für schön, was seine Wirkung nicht gewissen Combinationen verdankt, über die der Verstand uns immer Aufschluß zu geben vermag, wenn unsre Gefühle ihre Macht bestätigt haben. In der Kenntniß und Anwendung dieser Combinationen besteht alle Kunst. Shakespeare hat seine eignen gehabt. Es gilt, sie in seinen Werken zu entdecken, die Mittel, deren er sich dazu bediente, die Ergebnisse, die er damit erstrebte, zu erforschen. Erst dann werden wir wahrhaft sein System erkannt haben, erst dann werden wir wissen, bis zu welchem. Punkte es, dem Wesen der dramatischen Kunst nach, in der An¬ wendung auf unsre moderne Gesellschaft noch zu entwickeln ist." „Die Eindrücke des Menschen den Menschen neu offenbart — das ist in Wahrheit die Quelle aller dramatischen Wirkungen. Die Einheit des Eindrucks, dieses erste Geheimniß der dramatischen Kunst, ist die Seele der großen Con¬ ceptionen Shakespeares gewesen und der instinctive Gegenstand seiner unermüd¬ lichen Thätigkeit, wie sie der Zweck aller systematisch erfundnen Regeln ist. Die nusschließlichen Parteigänger des classischen Systems haben geglaubt, daß sich nur mittelst der drei Einheiten zu der Einheit des Eindrucks gelangen lasse. Shakespeare hat sie durch andre Mittel erreicht. Wenn die Gesetzmäßigkeit dieser Mittel erkannt wäre, so würde dies die den verschiednen Formen und Regeln bisher beigelegte Bedeutung verringern, die augenscheinlich mit einer mißbrauchten Autorität bekleidet sein würden, wenn die Kunst, um ihre Absicht zu erreichen, die Einschränkung«.'», welche sie auferlegt, und welche sie oft eines Theils ihrer Reichthümer berauben, nicht bedürfen sollte." „Die mit der Einheit des Eindrucks unerläßlich verbundene Einheit der Handlung konnte dem Blicke Shakespeares unmöglich entgehen. Wie aber sie behaupten, fragt man sich, inmitten so vieler bewegter und verwickelter Begeben¬ heiten auf diesem weiten Schauplatze, der so viele Orte und Jahre, alle socialen Bedingungen und die Entwicklung so vieler Situationen umfaßt? Es ist Shake¬ speare gleichwohl gelungen, weil sich der Dichter immer der fundamentalen Be- dingungen zu bemächtigen gewußt hat, um den Mittelpunkt des Interesses in den Mittelpunkt der Handlung zu verlegen." Gilizot empfahl schließlich das, wie er meinte, zwischen der classischen Tra¬ gödie, welche sich vorzugsweise an die Gelehrten und Vornehmen wendet, und Zwischen dem nur den Pöbel befriedigenden Melodrama mitten inne liegende romantische Drama, welches an alle Klassen der Nation gerichtet sei. Welches die Form dieses Dramas sein werde, wisse er nicht. Der Boden, auf dem es Gmizboleit IV. 1381. 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/23>, abgerufen am 15.05.2024.