Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Shakespeare in Frankreich.

Erst liuorövö LorZia entschied den Sieg der Romantiker, das classische Drama hatte
aufgehört, die erste Rolle zu spielen. Indessen beweisen die Processe Victor Hugos
gegen das IlMtrs tranoNs, welches sich weigerte, seine Stücke, zu deren Dar¬
stellung es sich doch contractmäßig verpflichtet hatte, zu spielen, den Widerstand,
welchen die Anhänger der classischen Doctrin und der Akademie, wenn auch nicht
offen, so doch heimlich auch noch ferner zu leisten beflissen waren.

Schon der Abb6 Dubos, welcher mit den in seinen Müsxions eriticiuö8
8ur 1^ xossis et 1^ Mnwro (1769) dargelegten ästhetischen Untersuchungen
bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts einen so großen Einfluß ausübte,
hatte gesagt, daß alles gefalle, was ein lebhaftes Gefühl des Daseins in uns
errege, daher auch das Unangenehme. Gleichwohl hatte er die Verbrecher in
die Tragödie nur soweit aufgenommen wissen wollen, als sie dazu beitrügen,
unser Mitleid und unsre Furcht für diejenigen, welche solche Gefühle in uns
zu erregen geeignet und dessen würdig seien, zu erhöhen; ausdrücklich aber hatte
er es in Bezug aus den Zweck der Tragödie für unangemessen erklärt, die ver¬
brecherischen Personen selbst zum Gegenstande der Furcht und des Mitleids zu
machen. Dies war, wie Shakespeare beweist, allerdings einseitig und beschränkt.
Victor Hugo glaubte daher, aus diesen sich stützend, umgekehrt das Gebiet des
Dramas gerade dadurch wesentlich erweitern zu können, daß er die sittliche
Häßlichkeit zum Hauptgegenstande des tragischen Mitleids machte und hierbei
noch über Shakespeare hinausging oder dessen Darstellungen doch nach dieser
Seite erweiterte. "Gebt der großen physischen Mißgestalt, der großen sittlichen
Verworfenheit ein edles Gefühl, das Herz eines Vaters, die Liebe einer Mutter,
und das Ungeheuer wird interessant, es wird schön werden, es wird euch rühren
und euch über sich weinen mache". Verbindet das Abstoßendste mit einer re¬
ligiösen Idee, und es wird heilig und rein werden. Heftet Gott an den Galgen,
so habt ihr das Kreuz."

Lessing hatte freilich gegen den ersten der oben von Dubos ausgehobenen
Sätze, ohne auf den zweiten noch näher einzugehen, in einem Briefe an Nicolai
geltend gemacht, daß dieser Satz, "falls er kein leeres Gewäsche sein solle, philo¬
sophischer ausgedrückt werden müsse." Dies war auch von ihm in einem Briefe
an Mendelssohn geschehen, in welchem es heißt: "Darin sind wir wohl einig,
daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern
Grades unsrer Realität bewußt sind und daß dieses Bewußtsein nicht anders
als angenehm sein kann. Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunan-
genehmsten, als Leidenschaften angenehm. Ihnen darf ich es aber nicht erst
sagen, daß die Lust, die mit der stärkern Bestimmung unsrer Kraft verbunden
ist, von der Unlust, die wir über die Gegenstände haben, worauf die Bestim¬
mung unsrer Kraft geht, oft so unendlich überwogen werde", daß wir uns ihrer
gar nicht bewußt sind," Dies hatte Dubos bei seinen Untersnchunge" nicht
erwogen. Seine Beschränkung des Häßlichen in der Kunst ist daher eine


Shakespeare in Frankreich.

Erst liuorövö LorZia entschied den Sieg der Romantiker, das classische Drama hatte
aufgehört, die erste Rolle zu spielen. Indessen beweisen die Processe Victor Hugos
gegen das IlMtrs tranoNs, welches sich weigerte, seine Stücke, zu deren Dar¬
stellung es sich doch contractmäßig verpflichtet hatte, zu spielen, den Widerstand,
welchen die Anhänger der classischen Doctrin und der Akademie, wenn auch nicht
offen, so doch heimlich auch noch ferner zu leisten beflissen waren.

Schon der Abb6 Dubos, welcher mit den in seinen Müsxions eriticiuö8
8ur 1^ xossis et 1^ Mnwro (1769) dargelegten ästhetischen Untersuchungen
bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts einen so großen Einfluß ausübte,
hatte gesagt, daß alles gefalle, was ein lebhaftes Gefühl des Daseins in uns
errege, daher auch das Unangenehme. Gleichwohl hatte er die Verbrecher in
die Tragödie nur soweit aufgenommen wissen wollen, als sie dazu beitrügen,
unser Mitleid und unsre Furcht für diejenigen, welche solche Gefühle in uns
zu erregen geeignet und dessen würdig seien, zu erhöhen; ausdrücklich aber hatte
er es in Bezug aus den Zweck der Tragödie für unangemessen erklärt, die ver¬
brecherischen Personen selbst zum Gegenstande der Furcht und des Mitleids zu
machen. Dies war, wie Shakespeare beweist, allerdings einseitig und beschränkt.
Victor Hugo glaubte daher, aus diesen sich stützend, umgekehrt das Gebiet des
Dramas gerade dadurch wesentlich erweitern zu können, daß er die sittliche
Häßlichkeit zum Hauptgegenstande des tragischen Mitleids machte und hierbei
noch über Shakespeare hinausging oder dessen Darstellungen doch nach dieser
Seite erweiterte. „Gebt der großen physischen Mißgestalt, der großen sittlichen
Verworfenheit ein edles Gefühl, das Herz eines Vaters, die Liebe einer Mutter,
und das Ungeheuer wird interessant, es wird schön werden, es wird euch rühren
und euch über sich weinen mache». Verbindet das Abstoßendste mit einer re¬
ligiösen Idee, und es wird heilig und rein werden. Heftet Gott an den Galgen,
so habt ihr das Kreuz."

Lessing hatte freilich gegen den ersten der oben von Dubos ausgehobenen
Sätze, ohne auf den zweiten noch näher einzugehen, in einem Briefe an Nicolai
geltend gemacht, daß dieser Satz, „falls er kein leeres Gewäsche sein solle, philo¬
sophischer ausgedrückt werden müsse." Dies war auch von ihm in einem Briefe
an Mendelssohn geschehen, in welchem es heißt: „Darin sind wir wohl einig,
daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern
Grades unsrer Realität bewußt sind und daß dieses Bewußtsein nicht anders
als angenehm sein kann. Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunan-
genehmsten, als Leidenschaften angenehm. Ihnen darf ich es aber nicht erst
sagen, daß die Lust, die mit der stärkern Bestimmung unsrer Kraft verbunden
ist, von der Unlust, die wir über die Gegenstände haben, worauf die Bestim¬
mung unsrer Kraft geht, oft so unendlich überwogen werde», daß wir uns ihrer
gar nicht bewußt sind," Dies hatte Dubos bei seinen Untersnchunge» nicht
erwogen. Seine Beschränkung des Häßlichen in der Kunst ist daher eine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150751"/>
          <fw type="header" place="top"> Shakespeare in Frankreich.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_67" prev="#ID_66"> Erst liuorövö LorZia entschied den Sieg der Romantiker, das classische Drama hatte<lb/>
aufgehört, die erste Rolle zu spielen. Indessen beweisen die Processe Victor Hugos<lb/>
gegen das IlMtrs tranoNs, welches sich weigerte, seine Stücke, zu deren Dar¬<lb/>
stellung es sich doch contractmäßig verpflichtet hatte, zu spielen, den Widerstand,<lb/>
welchen die Anhänger der classischen Doctrin und der Akademie, wenn auch nicht<lb/>
offen, so doch heimlich auch noch ferner zu leisten beflissen waren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_68"> Schon der Abb6 Dubos, welcher mit den in seinen Müsxions eriticiuö8<lb/>
8ur 1^ xossis et 1^ Mnwro (1769) dargelegten ästhetischen Untersuchungen<lb/>
bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts einen so großen Einfluß ausübte,<lb/>
hatte gesagt, daß alles gefalle, was ein lebhaftes Gefühl des Daseins in uns<lb/>
errege, daher auch das Unangenehme. Gleichwohl hatte er die Verbrecher in<lb/>
die Tragödie nur soweit aufgenommen wissen wollen, als sie dazu beitrügen,<lb/>
unser Mitleid und unsre Furcht für diejenigen, welche solche Gefühle in uns<lb/>
zu erregen geeignet und dessen würdig seien, zu erhöhen; ausdrücklich aber hatte<lb/>
er es in Bezug aus den Zweck der Tragödie für unangemessen erklärt, die ver¬<lb/>
brecherischen Personen selbst zum Gegenstande der Furcht und des Mitleids zu<lb/>
machen. Dies war, wie Shakespeare beweist, allerdings einseitig und beschränkt.<lb/>
Victor Hugo glaubte daher, aus diesen sich stützend, umgekehrt das Gebiet des<lb/>
Dramas gerade dadurch wesentlich erweitern zu können, daß er die sittliche<lb/>
Häßlichkeit zum Hauptgegenstande des tragischen Mitleids machte und hierbei<lb/>
noch über Shakespeare hinausging oder dessen Darstellungen doch nach dieser<lb/>
Seite erweiterte. &#x201E;Gebt der großen physischen Mißgestalt, der großen sittlichen<lb/>
Verworfenheit ein edles Gefühl, das Herz eines Vaters, die Liebe einer Mutter,<lb/>
und das Ungeheuer wird interessant, es wird schön werden, es wird euch rühren<lb/>
und euch über sich weinen mache». Verbindet das Abstoßendste mit einer re¬<lb/>
ligiösen Idee, und es wird heilig und rein werden. Heftet Gott an den Galgen,<lb/>
so habt ihr das Kreuz."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_69" next="#ID_70"> Lessing hatte freilich gegen den ersten der oben von Dubos ausgehobenen<lb/>
Sätze, ohne auf den zweiten noch näher einzugehen, in einem Briefe an Nicolai<lb/>
geltend gemacht, daß dieser Satz, &#x201E;falls er kein leeres Gewäsche sein solle, philo¬<lb/>
sophischer ausgedrückt werden müsse." Dies war auch von ihm in einem Briefe<lb/>
an Mendelssohn geschehen, in welchem es heißt: &#x201E;Darin sind wir wohl einig,<lb/>
daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern<lb/>
Grades unsrer Realität bewußt sind und daß dieses Bewußtsein nicht anders<lb/>
als angenehm sein kann. Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunan-<lb/>
genehmsten, als Leidenschaften angenehm. Ihnen darf ich es aber nicht erst<lb/>
sagen, daß die Lust, die mit der stärkern Bestimmung unsrer Kraft verbunden<lb/>
ist, von der Unlust, die wir über die Gegenstände haben, worauf die Bestim¬<lb/>
mung unsrer Kraft geht, oft so unendlich überwogen werde», daß wir uns ihrer<lb/>
gar nicht bewußt sind," Dies hatte Dubos bei seinen Untersnchunge» nicht<lb/>
erwogen.  Seine Beschränkung des Häßlichen in der Kunst ist daher eine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] Shakespeare in Frankreich. Erst liuorövö LorZia entschied den Sieg der Romantiker, das classische Drama hatte aufgehört, die erste Rolle zu spielen. Indessen beweisen die Processe Victor Hugos gegen das IlMtrs tranoNs, welches sich weigerte, seine Stücke, zu deren Dar¬ stellung es sich doch contractmäßig verpflichtet hatte, zu spielen, den Widerstand, welchen die Anhänger der classischen Doctrin und der Akademie, wenn auch nicht offen, so doch heimlich auch noch ferner zu leisten beflissen waren. Schon der Abb6 Dubos, welcher mit den in seinen Müsxions eriticiuö8 8ur 1^ xossis et 1^ Mnwro (1769) dargelegten ästhetischen Untersuchungen bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts einen so großen Einfluß ausübte, hatte gesagt, daß alles gefalle, was ein lebhaftes Gefühl des Daseins in uns errege, daher auch das Unangenehme. Gleichwohl hatte er die Verbrecher in die Tragödie nur soweit aufgenommen wissen wollen, als sie dazu beitrügen, unser Mitleid und unsre Furcht für diejenigen, welche solche Gefühle in uns zu erregen geeignet und dessen würdig seien, zu erhöhen; ausdrücklich aber hatte er es in Bezug aus den Zweck der Tragödie für unangemessen erklärt, die ver¬ brecherischen Personen selbst zum Gegenstande der Furcht und des Mitleids zu machen. Dies war, wie Shakespeare beweist, allerdings einseitig und beschränkt. Victor Hugo glaubte daher, aus diesen sich stützend, umgekehrt das Gebiet des Dramas gerade dadurch wesentlich erweitern zu können, daß er die sittliche Häßlichkeit zum Hauptgegenstande des tragischen Mitleids machte und hierbei noch über Shakespeare hinausging oder dessen Darstellungen doch nach dieser Seite erweiterte. „Gebt der großen physischen Mißgestalt, der großen sittlichen Verworfenheit ein edles Gefühl, das Herz eines Vaters, die Liebe einer Mutter, und das Ungeheuer wird interessant, es wird schön werden, es wird euch rühren und euch über sich weinen mache». Verbindet das Abstoßendste mit einer re¬ ligiösen Idee, und es wird heilig und rein werden. Heftet Gott an den Galgen, so habt ihr das Kreuz." Lessing hatte freilich gegen den ersten der oben von Dubos ausgehobenen Sätze, ohne auf den zweiten noch näher einzugehen, in einem Briefe an Nicolai geltend gemacht, daß dieser Satz, „falls er kein leeres Gewäsche sein solle, philo¬ sophischer ausgedrückt werden müsse." Dies war auch von ihm in einem Briefe an Mendelssohn geschehen, in welchem es heißt: „Darin sind wir wohl einig, daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern Grades unsrer Realität bewußt sind und daß dieses Bewußtsein nicht anders als angenehm sein kann. Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunan- genehmsten, als Leidenschaften angenehm. Ihnen darf ich es aber nicht erst sagen, daß die Lust, die mit der stärkern Bestimmung unsrer Kraft verbunden ist, von der Unlust, die wir über die Gegenstände haben, worauf die Bestim¬ mung unsrer Kraft geht, oft so unendlich überwogen werde», daß wir uns ihrer gar nicht bewußt sind," Dies hatte Dubos bei seinen Untersnchunge» nicht erwogen. Seine Beschränkung des Häßlichen in der Kunst ist daher eine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/29>, abgerufen am 16.05.2024.