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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

wesentlich andre als die von Lessing geforderte. Victor Hugo entsprach weder
der einen noch der andern, wofür er sich eben auf Shakespeare berufen zu
können glaubte. Dies war aber irrig, da dieser bei seiner Verwendung des
Häßlichen fast durchgehends sei es der Dubosschen, sei es der Lessingschen For¬
derung, welche die Dubossche Forderung, nur in präeisirterer und eingeschränkterer
Weise, in sich einschließt, entspricht. Die Werthschätzung Shakespeares bleibt aber
bei Victor Hugo, so sehr er auch von ihm abweicht, unverändert dieselbe. Noch
im Vorwort zu seiner Nuriö luäor beruft er sich wieder auf ihn: "Durch
zweierlei läßt sich die Menge im Theater erregen: durch das Große und durch
das Wahre. Das Große ergreift die Massen, das Wahre den Einzelnen. Der
Zweck des Dramatikers muß daher vor allem andern sein, entweder wie Cor¬
neille das Große, oder wie Molivre das Wahre zu suchen, oder besser noch,
und das ist der höchste Gipfel, zu dem das Genie sich erheben kann, zugleich
das Große und das Wahre, das Große im Wahren und das Wahre im Großen,
so wie Shakespeare, zu erreichen. Denn, nebenbei sei es bemerkt, es ist Shake¬
speare zu Theil worden, und es ist das, was die Größe seines Genies macht,
die beiden Eigenschaften des Wahren und des Großen immer in seinen Werken
zu versöhnen, zu verbinden, zu verschmelzen, Eigenschaften, die ihrer Natur
nach einander sonst widersprechen, oder wenigstens so unterschieden sind, daß
der Fehler jeder einzelnen von ihnen sich anders zeigt. Die Klippe des Wahren
ist das Kleine, die des Großen das Falsche. In allen Werken Shakespeares
aber giebt es Großes, das wahr, und Wahres, das groß ist. Im Mittelpunkte
all seiner Schöpfungen treffen das Große und das Wahre zusammen. Wo
das aber geschieht, ist die Kunst vollkommen. Shakespeare übertreibt die Pro¬
portionen, aber er hält die Beziehungen ein. So ist Hamlet so wahr wie
wir, aber viel größer. Er ist colossal und doch ganz wirklich. Das macht,
weil Hamlet keiner von uns, weder du noch ich ist, sondern uns alle umfaßt.
Er ist kein einzelner Mensch, sondern der Mensch überhaupt."

Victor Hugo hat hier ziemlich richtig die wunderbare Verschmelzung des
Großen und Wahren, des Idealen und Realen in Shakespeares Werken be¬
zeichnet, und es ist sicher, daß er ihm gerade hierin, wenn auch auf eine andre
und neue Weise, nachstreben wollte. Wie kommt es nun aber, daß beide in
ihren Werken einander so unähnlich sind? Der Grund ist hauptsächlich der,
daß Shakespeare, der zugleich selbst wahr und groß war, der seinen Blick zu¬
gleich auf die Wirklichkeit und über dieselbe hinaus gerichtet hielt, eben deshalb
ganz unmittelbar und naiv das Große und Wahre, das Reale und Ideale dar¬
stellen und in dieser Darstellung mit einander verbinden konnte, während Victor
Hugo, wie der Eingang dieser seiner Betrachtung uns lehrt, es nur um einer
bestimmten Wirkung willen, in beabsichtigter und berechneter Weise that. Shake¬
speare ergriff die Gegensätze, welche das Leben ihm darbot, er warf Conflicte
und Probleme ans und suchte sie auf eine auf die Natur und das handelnde


Shakespeare in Frankreich.

wesentlich andre als die von Lessing geforderte. Victor Hugo entsprach weder
der einen noch der andern, wofür er sich eben auf Shakespeare berufen zu
können glaubte. Dies war aber irrig, da dieser bei seiner Verwendung des
Häßlichen fast durchgehends sei es der Dubosschen, sei es der Lessingschen For¬
derung, welche die Dubossche Forderung, nur in präeisirterer und eingeschränkterer
Weise, in sich einschließt, entspricht. Die Werthschätzung Shakespeares bleibt aber
bei Victor Hugo, so sehr er auch von ihm abweicht, unverändert dieselbe. Noch
im Vorwort zu seiner Nuriö luäor beruft er sich wieder auf ihn: „Durch
zweierlei läßt sich die Menge im Theater erregen: durch das Große und durch
das Wahre. Das Große ergreift die Massen, das Wahre den Einzelnen. Der
Zweck des Dramatikers muß daher vor allem andern sein, entweder wie Cor¬
neille das Große, oder wie Molivre das Wahre zu suchen, oder besser noch,
und das ist der höchste Gipfel, zu dem das Genie sich erheben kann, zugleich
das Große und das Wahre, das Große im Wahren und das Wahre im Großen,
so wie Shakespeare, zu erreichen. Denn, nebenbei sei es bemerkt, es ist Shake¬
speare zu Theil worden, und es ist das, was die Größe seines Genies macht,
die beiden Eigenschaften des Wahren und des Großen immer in seinen Werken
zu versöhnen, zu verbinden, zu verschmelzen, Eigenschaften, die ihrer Natur
nach einander sonst widersprechen, oder wenigstens so unterschieden sind, daß
der Fehler jeder einzelnen von ihnen sich anders zeigt. Die Klippe des Wahren
ist das Kleine, die des Großen das Falsche. In allen Werken Shakespeares
aber giebt es Großes, das wahr, und Wahres, das groß ist. Im Mittelpunkte
all seiner Schöpfungen treffen das Große und das Wahre zusammen. Wo
das aber geschieht, ist die Kunst vollkommen. Shakespeare übertreibt die Pro¬
portionen, aber er hält die Beziehungen ein. So ist Hamlet so wahr wie
wir, aber viel größer. Er ist colossal und doch ganz wirklich. Das macht,
weil Hamlet keiner von uns, weder du noch ich ist, sondern uns alle umfaßt.
Er ist kein einzelner Mensch, sondern der Mensch überhaupt."

Victor Hugo hat hier ziemlich richtig die wunderbare Verschmelzung des
Großen und Wahren, des Idealen und Realen in Shakespeares Werken be¬
zeichnet, und es ist sicher, daß er ihm gerade hierin, wenn auch auf eine andre
und neue Weise, nachstreben wollte. Wie kommt es nun aber, daß beide in
ihren Werken einander so unähnlich sind? Der Grund ist hauptsächlich der,
daß Shakespeare, der zugleich selbst wahr und groß war, der seinen Blick zu¬
gleich auf die Wirklichkeit und über dieselbe hinaus gerichtet hielt, eben deshalb
ganz unmittelbar und naiv das Große und Wahre, das Reale und Ideale dar¬
stellen und in dieser Darstellung mit einander verbinden konnte, während Victor
Hugo, wie der Eingang dieser seiner Betrachtung uns lehrt, es nur um einer
bestimmten Wirkung willen, in beabsichtigter und berechneter Weise that. Shake¬
speare ergriff die Gegensätze, welche das Leben ihm darbot, er warf Conflicte
und Probleme ans und suchte sie auf eine auf die Natur und das handelnde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/30>, abgerufen am 15.05.2024.