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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

Leben des Menschen bezogenen Weise zu lösen, weil er sie in der Nntur, im
Leben, im Schicksal der Menschen vorfand, er stellte sie so ergreifend dar, nur
weil er sich selbst so tief davon gerührt und ergriffen fühlte. Victor Hugo aber
klügelte dieselben aus, weil es ihm vor allem auf den theatralischen Effect an¬
kam, auf den er, trotz seines großen poetischen und dramatischen Talents, alles
berechnete. Obschon ein wirklicher Dichter, stand er bei seinem dramatischen
Schaffen doch zu sehr unter der Herrschaft des fascinirendcn Zaubers sensa¬
tioneller Erfolge, Alexandre Dumas aber, der, seinen theatralischen Wirkungen
nach, nächstbedeutende dramatische Romantiker jener Zeit, zugleich noch unter
der des materiellen Erfolgs. Das erste wird man daraus erklären und dadurch
auch entschuldigen können, daß diese ganze neue romantisch-dramatische Schule
in eine zu enge Verbindung mit dem Melodroma gerathen war, wie ja nicht
nur Alexandre Dumas, sondern selbst noch der zu den Romantikern überge¬
gangene, ursprünglich classische Dramatiker soumet sich im Melodrama versuchte.
Victor Hugo beabsichtigte ohne Zweifel die Vorzüge des Shakespearischen Dramas
mit denen des akademisch-classischen Dramas in einer seinen besondern Zwecken
entsprechenden Weise zu verbinden, da er, was das letztere betrifft, die Einheit
der Zeit und des Orts zwar nicht für das ganze Stück, aber doch für den
einzelnen Act immer noch festhielt und seinem Drama eine größere Spannung gab,
als bei Shakespeare zu finden ist, eine Spannung, die von Scene zu Scene,
von Act zu Act wächst. Bei alledem hat er aber unter dein Einfluß gewisser
seenischer Wirkungen des Melodramas in dem Maße gestanden, daß es fast er¬
laubt ist, zu sagen, er habe die lebensfähigen, dramatischen Elemente desselben
in feinem Drama nur zu höherem, poetischerem Ausdruck gebracht und ihnen
eine stilvollere Behandlung gegeben. Alexandre Dumas näherte sich aber, nach
einigen Versuchen zu einem höhern Aufschwung, dem Melodrama sogar wieder
um, um schließlich bis zum Ausstattungsstücke herabzusinken.

Selbst noch auf diejenigen romantischen Dramatiker Frankreichs, welche
damals bei ihren Conceptionen von noch reineren oder doch gewählteren poetischen
Intentionen ausgingen, hat Shakespeare immer nur durch einzelne seiner großen
Eigenschasten einen Einfluß ausgeübt. Vor allem war es die lebendige Action,
die vielseitige Individualisirung, die freie, mannichfaltigere Bewegung der Cha¬
raktere, sowie das dramatische und samische Colorit, welches man an ihm zum
Vorbilde nahm. So entstanden ki" lUMvolmlö ä'^mors (1830) und Lümttörtou
(1835) von Alfred de Vigny, so I.oui8 XI. (1832) und I^es öutMt" ä'Mousrä
von Casimir Delavigne.

Auch erneute Versuche von Uebersetzungen traten ins Leben, sowie einige
freie Bearbeitungen shakespearischer Stücke, von denen nur PsMgF von Paul
Meurice und Auguste Vacquerie (1842), H^mise von Alexandre Dumas und
P. Meurice, N^vstti von Emile Deschamps (1847), Rsnri V. se 8ö8 LZoiu-
MMons von Romieu und Royer, Kiolmrä III. von Victor Svjour (1852) er-


Grmzbvtm IV. 1831. 4
Shakespeare in Frankreich.

Leben des Menschen bezogenen Weise zu lösen, weil er sie in der Nntur, im
Leben, im Schicksal der Menschen vorfand, er stellte sie so ergreifend dar, nur
weil er sich selbst so tief davon gerührt und ergriffen fühlte. Victor Hugo aber
klügelte dieselben aus, weil es ihm vor allem auf den theatralischen Effect an¬
kam, auf den er, trotz seines großen poetischen und dramatischen Talents, alles
berechnete. Obschon ein wirklicher Dichter, stand er bei seinem dramatischen
Schaffen doch zu sehr unter der Herrschaft des fascinirendcn Zaubers sensa¬
tioneller Erfolge, Alexandre Dumas aber, der, seinen theatralischen Wirkungen
nach, nächstbedeutende dramatische Romantiker jener Zeit, zugleich noch unter
der des materiellen Erfolgs. Das erste wird man daraus erklären und dadurch
auch entschuldigen können, daß diese ganze neue romantisch-dramatische Schule
in eine zu enge Verbindung mit dem Melodroma gerathen war, wie ja nicht
nur Alexandre Dumas, sondern selbst noch der zu den Romantikern überge¬
gangene, ursprünglich classische Dramatiker soumet sich im Melodrama versuchte.
Victor Hugo beabsichtigte ohne Zweifel die Vorzüge des Shakespearischen Dramas
mit denen des akademisch-classischen Dramas in einer seinen besondern Zwecken
entsprechenden Weise zu verbinden, da er, was das letztere betrifft, die Einheit
der Zeit und des Orts zwar nicht für das ganze Stück, aber doch für den
einzelnen Act immer noch festhielt und seinem Drama eine größere Spannung gab,
als bei Shakespeare zu finden ist, eine Spannung, die von Scene zu Scene,
von Act zu Act wächst. Bei alledem hat er aber unter dein Einfluß gewisser
seenischer Wirkungen des Melodramas in dem Maße gestanden, daß es fast er¬
laubt ist, zu sagen, er habe die lebensfähigen, dramatischen Elemente desselben
in feinem Drama nur zu höherem, poetischerem Ausdruck gebracht und ihnen
eine stilvollere Behandlung gegeben. Alexandre Dumas näherte sich aber, nach
einigen Versuchen zu einem höhern Aufschwung, dem Melodrama sogar wieder
um, um schließlich bis zum Ausstattungsstücke herabzusinken.

Selbst noch auf diejenigen romantischen Dramatiker Frankreichs, welche
damals bei ihren Conceptionen von noch reineren oder doch gewählteren poetischen
Intentionen ausgingen, hat Shakespeare immer nur durch einzelne seiner großen
Eigenschasten einen Einfluß ausgeübt. Vor allem war es die lebendige Action,
die vielseitige Individualisirung, die freie, mannichfaltigere Bewegung der Cha¬
raktere, sowie das dramatische und samische Colorit, welches man an ihm zum
Vorbilde nahm. So entstanden ki» lUMvolmlö ä'^mors (1830) und Lümttörtou
(1835) von Alfred de Vigny, so I.oui8 XI. (1832) und I^es öutMt« ä'Mousrä
von Casimir Delavigne.

Auch erneute Versuche von Uebersetzungen traten ins Leben, sowie einige
freie Bearbeitungen shakespearischer Stücke, von denen nur PsMgF von Paul
Meurice und Auguste Vacquerie (1842), H^mise von Alexandre Dumas und
P. Meurice, N^vstti von Emile Deschamps (1847), Rsnri V. se 8ö8 LZoiu-
MMons von Romieu und Royer, Kiolmrä III. von Victor Svjour (1852) er-


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[0031] Shakespeare in Frankreich. Leben des Menschen bezogenen Weise zu lösen, weil er sie in der Nntur, im Leben, im Schicksal der Menschen vorfand, er stellte sie so ergreifend dar, nur weil er sich selbst so tief davon gerührt und ergriffen fühlte. Victor Hugo aber klügelte dieselben aus, weil es ihm vor allem auf den theatralischen Effect an¬ kam, auf den er, trotz seines großen poetischen und dramatischen Talents, alles berechnete. Obschon ein wirklicher Dichter, stand er bei seinem dramatischen Schaffen doch zu sehr unter der Herrschaft des fascinirendcn Zaubers sensa¬ tioneller Erfolge, Alexandre Dumas aber, der, seinen theatralischen Wirkungen nach, nächstbedeutende dramatische Romantiker jener Zeit, zugleich noch unter der des materiellen Erfolgs. Das erste wird man daraus erklären und dadurch auch entschuldigen können, daß diese ganze neue romantisch-dramatische Schule in eine zu enge Verbindung mit dem Melodroma gerathen war, wie ja nicht nur Alexandre Dumas, sondern selbst noch der zu den Romantikern überge¬ gangene, ursprünglich classische Dramatiker soumet sich im Melodrama versuchte. Victor Hugo beabsichtigte ohne Zweifel die Vorzüge des Shakespearischen Dramas mit denen des akademisch-classischen Dramas in einer seinen besondern Zwecken entsprechenden Weise zu verbinden, da er, was das letztere betrifft, die Einheit der Zeit und des Orts zwar nicht für das ganze Stück, aber doch für den einzelnen Act immer noch festhielt und seinem Drama eine größere Spannung gab, als bei Shakespeare zu finden ist, eine Spannung, die von Scene zu Scene, von Act zu Act wächst. Bei alledem hat er aber unter dein Einfluß gewisser seenischer Wirkungen des Melodramas in dem Maße gestanden, daß es fast er¬ laubt ist, zu sagen, er habe die lebensfähigen, dramatischen Elemente desselben in feinem Drama nur zu höherem, poetischerem Ausdruck gebracht und ihnen eine stilvollere Behandlung gegeben. Alexandre Dumas näherte sich aber, nach einigen Versuchen zu einem höhern Aufschwung, dem Melodrama sogar wieder um, um schließlich bis zum Ausstattungsstücke herabzusinken. Selbst noch auf diejenigen romantischen Dramatiker Frankreichs, welche damals bei ihren Conceptionen von noch reineren oder doch gewählteren poetischen Intentionen ausgingen, hat Shakespeare immer nur durch einzelne seiner großen Eigenschasten einen Einfluß ausgeübt. Vor allem war es die lebendige Action, die vielseitige Individualisirung, die freie, mannichfaltigere Bewegung der Cha¬ raktere, sowie das dramatische und samische Colorit, welches man an ihm zum Vorbilde nahm. So entstanden ki» lUMvolmlö ä'^mors (1830) und Lümttörtou (1835) von Alfred de Vigny, so I.oui8 XI. (1832) und I^es öutMt« ä'Mousrä von Casimir Delavigne. Auch erneute Versuche von Uebersetzungen traten ins Leben, sowie einige freie Bearbeitungen shakespearischer Stücke, von denen nur PsMgF von Paul Meurice und Auguste Vacquerie (1842), H^mise von Alexandre Dumas und P. Meurice, N^vstti von Emile Deschamps (1847), Rsnri V. se 8ö8 LZoiu- MMons von Romieu und Royer, Kiolmrä III. von Victor Svjour (1852) er- Grmzbvtm IV. 1831. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/31>, abgerufen am 16.05.2024.