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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Aus der Zeit nach dem Tilsiter Frieden.

und Bewilligung langer Zahlungstermine seien die zu erstrebenden Punkte. Un¬
gefähr gleichzeitig richtete der König ein Schreiben an den Kaiser Alexander,
in welchem er alle Momente hervorhob, welche die Existenz Preußens selbst
nach Annahme des Vertrages mit Napoleon als in hohem Grade gefährdet er¬
scheinen ließen, dann ans das Zerwürfniß zwischen Oesterreich und Frankreich
und auf die unabsehbaren Folgen eines Sturzes des erstem hinwies und schließlich
sich offen zu der Ueberzeugung bekannte, daß Rußland und Preußen, von ge¬
meinsamem Interesse geleitet, beide von der Universalmonarchie Napoleons be¬
droht, Oesterreich nicht im Stiche lassen durften, und unter Hindeutung auf
die spanischen Ereignisse auf schleimige Berathung der gemeinsam zu ergreifenden
Maßregeln drang.

Die Entscheidung, die Alexander traf, mußte für die nächste Zeit das
Schicksal Europas bestimmen. Nicht nur Preußen appellirte jetzt an seinen
Rath, auch Oesterreich hatte sich inzwischen an ihn gewendet, und die Wahr¬
scheinlichkeit liegt nahe, daß letzteres sofort Frankreich den Krieg erklärt haben
würde, falls Rußland sich entschlossen hätte, jetzt dem Bündniß mit Napoleon
zu entsagen. Wie leicht wäre es gewesen, in dem Augenblicke, wo dieser einen
großen Theil seiner Streitkräfte aus Deutschland ziehen mußte, durch einen
combinirten Angriff von Böhmen, Schlesien und Posen her den vereinzelt ab¬
ziehenden französischen Colonnen die Spitze zu bieten! Hätte Alexander damals
dem Wiener Hofe die Hand geboten und ein Truppencorps über die Weichsel
gehen lassen, so würde Preußen ohne Zögern seinem Beispiele gefolgt sein, fast
allenthalben in Deutschland würde das Volk aufgestanden sein, und unter dem
Zusammenwirken aller nationalen Kräfte mit drei kriegsgeübten Armeen wäre
an dem Siege der guten Sache nach menschlicher Berechnung kaum zu zweifeln
gewesen. Allein das hohe Ziel der Befreiung Europas, dem Alexander einst
mit feierlichen Worten die Waffen Rußlands geweiht hatte, lag seit dem Tilsiter
Frieden wie ein Phantasiegebilde hinter ihm; die Besorgniß vor der Macht Na¬
poleons und der Trieb, im Bunde mit derselben seinem Staate Vortheile zu
verschaffen, durch Coulaincourt, den französischen Gesandten in Petersburg, so¬
eben noch mit Versprechungen genährt, hatten das Uebergewicht in seiner Seele.
So wies er die Anträge des Wiener Cabinets zurück, ging auf einen Versuch
Englands, die russische Politik in andre Bahnen zu lenken, nicht ein, und be¬
antwortete auch den Brief Friedrich Wilhelms ablehnend.

Der Zar kannte bereits den Wechsel, der in den Anschauungen des preu¬
ßischen Hofes eingetreten war. Die Worte des Königs fanden ihn daher nicht
unvorbereitet, aber sie ließen ihn einen tiefern Blick in die Ueberzeugungen und
Absichten seines Freundes thun. Er las aus jeder Zeile den Wunsch Friedrich
Wilhelms, auf die Seite Oesterreichs zu treten, und da derselbe schnurstracks
gegen seine Ansichten und Hoffnungen ging, säumte er nicht, die Ausführungen
des Königs mit seinen Gegengründen zu beantworten. Am 11. September schrieb


Aus der Zeit nach dem Tilsiter Frieden.

und Bewilligung langer Zahlungstermine seien die zu erstrebenden Punkte. Un¬
gefähr gleichzeitig richtete der König ein Schreiben an den Kaiser Alexander,
in welchem er alle Momente hervorhob, welche die Existenz Preußens selbst
nach Annahme des Vertrages mit Napoleon als in hohem Grade gefährdet er¬
scheinen ließen, dann ans das Zerwürfniß zwischen Oesterreich und Frankreich
und auf die unabsehbaren Folgen eines Sturzes des erstem hinwies und schließlich
sich offen zu der Ueberzeugung bekannte, daß Rußland und Preußen, von ge¬
meinsamem Interesse geleitet, beide von der Universalmonarchie Napoleons be¬
droht, Oesterreich nicht im Stiche lassen durften, und unter Hindeutung auf
die spanischen Ereignisse auf schleimige Berathung der gemeinsam zu ergreifenden
Maßregeln drang.

Die Entscheidung, die Alexander traf, mußte für die nächste Zeit das
Schicksal Europas bestimmen. Nicht nur Preußen appellirte jetzt an seinen
Rath, auch Oesterreich hatte sich inzwischen an ihn gewendet, und die Wahr¬
scheinlichkeit liegt nahe, daß letzteres sofort Frankreich den Krieg erklärt haben
würde, falls Rußland sich entschlossen hätte, jetzt dem Bündniß mit Napoleon
zu entsagen. Wie leicht wäre es gewesen, in dem Augenblicke, wo dieser einen
großen Theil seiner Streitkräfte aus Deutschland ziehen mußte, durch einen
combinirten Angriff von Böhmen, Schlesien und Posen her den vereinzelt ab¬
ziehenden französischen Colonnen die Spitze zu bieten! Hätte Alexander damals
dem Wiener Hofe die Hand geboten und ein Truppencorps über die Weichsel
gehen lassen, so würde Preußen ohne Zögern seinem Beispiele gefolgt sein, fast
allenthalben in Deutschland würde das Volk aufgestanden sein, und unter dem
Zusammenwirken aller nationalen Kräfte mit drei kriegsgeübten Armeen wäre
an dem Siege der guten Sache nach menschlicher Berechnung kaum zu zweifeln
gewesen. Allein das hohe Ziel der Befreiung Europas, dem Alexander einst
mit feierlichen Worten die Waffen Rußlands geweiht hatte, lag seit dem Tilsiter
Frieden wie ein Phantasiegebilde hinter ihm; die Besorgniß vor der Macht Na¬
poleons und der Trieb, im Bunde mit derselben seinem Staate Vortheile zu
verschaffen, durch Coulaincourt, den französischen Gesandten in Petersburg, so¬
eben noch mit Versprechungen genährt, hatten das Uebergewicht in seiner Seele.
So wies er die Anträge des Wiener Cabinets zurück, ging auf einen Versuch
Englands, die russische Politik in andre Bahnen zu lenken, nicht ein, und be¬
antwortete auch den Brief Friedrich Wilhelms ablehnend.

Der Zar kannte bereits den Wechsel, der in den Anschauungen des preu¬
ßischen Hofes eingetreten war. Die Worte des Königs fanden ihn daher nicht
unvorbereitet, aber sie ließen ihn einen tiefern Blick in die Ueberzeugungen und
Absichten seines Freundes thun. Er las aus jeder Zeile den Wunsch Friedrich
Wilhelms, auf die Seite Oesterreichs zu treten, und da derselbe schnurstracks
gegen seine Ansichten und Hoffnungen ging, säumte er nicht, die Ausführungen
des Königs mit seinen Gegengründen zu beantworten. Am 11. September schrieb


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[0069] Aus der Zeit nach dem Tilsiter Frieden. und Bewilligung langer Zahlungstermine seien die zu erstrebenden Punkte. Un¬ gefähr gleichzeitig richtete der König ein Schreiben an den Kaiser Alexander, in welchem er alle Momente hervorhob, welche die Existenz Preußens selbst nach Annahme des Vertrages mit Napoleon als in hohem Grade gefährdet er¬ scheinen ließen, dann ans das Zerwürfniß zwischen Oesterreich und Frankreich und auf die unabsehbaren Folgen eines Sturzes des erstem hinwies und schließlich sich offen zu der Ueberzeugung bekannte, daß Rußland und Preußen, von ge¬ meinsamem Interesse geleitet, beide von der Universalmonarchie Napoleons be¬ droht, Oesterreich nicht im Stiche lassen durften, und unter Hindeutung auf die spanischen Ereignisse auf schleimige Berathung der gemeinsam zu ergreifenden Maßregeln drang. Die Entscheidung, die Alexander traf, mußte für die nächste Zeit das Schicksal Europas bestimmen. Nicht nur Preußen appellirte jetzt an seinen Rath, auch Oesterreich hatte sich inzwischen an ihn gewendet, und die Wahr¬ scheinlichkeit liegt nahe, daß letzteres sofort Frankreich den Krieg erklärt haben würde, falls Rußland sich entschlossen hätte, jetzt dem Bündniß mit Napoleon zu entsagen. Wie leicht wäre es gewesen, in dem Augenblicke, wo dieser einen großen Theil seiner Streitkräfte aus Deutschland ziehen mußte, durch einen combinirten Angriff von Böhmen, Schlesien und Posen her den vereinzelt ab¬ ziehenden französischen Colonnen die Spitze zu bieten! Hätte Alexander damals dem Wiener Hofe die Hand geboten und ein Truppencorps über die Weichsel gehen lassen, so würde Preußen ohne Zögern seinem Beispiele gefolgt sein, fast allenthalben in Deutschland würde das Volk aufgestanden sein, und unter dem Zusammenwirken aller nationalen Kräfte mit drei kriegsgeübten Armeen wäre an dem Siege der guten Sache nach menschlicher Berechnung kaum zu zweifeln gewesen. Allein das hohe Ziel der Befreiung Europas, dem Alexander einst mit feierlichen Worten die Waffen Rußlands geweiht hatte, lag seit dem Tilsiter Frieden wie ein Phantasiegebilde hinter ihm; die Besorgniß vor der Macht Na¬ poleons und der Trieb, im Bunde mit derselben seinem Staate Vortheile zu verschaffen, durch Coulaincourt, den französischen Gesandten in Petersburg, so¬ eben noch mit Versprechungen genährt, hatten das Uebergewicht in seiner Seele. So wies er die Anträge des Wiener Cabinets zurück, ging auf einen Versuch Englands, die russische Politik in andre Bahnen zu lenken, nicht ein, und be¬ antwortete auch den Brief Friedrich Wilhelms ablehnend. Der Zar kannte bereits den Wechsel, der in den Anschauungen des preu¬ ßischen Hofes eingetreten war. Die Worte des Königs fanden ihn daher nicht unvorbereitet, aber sie ließen ihn einen tiefern Blick in die Ueberzeugungen und Absichten seines Freundes thun. Er las aus jeder Zeile den Wunsch Friedrich Wilhelms, auf die Seite Oesterreichs zu treten, und da derselbe schnurstracks gegen seine Ansichten und Hoffnungen ging, säumte er nicht, die Ausführungen des Königs mit seinen Gegengründen zu beantworten. Am 11. September schrieb

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/69>, abgerufen am 31.05.2024.