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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Politische Rückblicke und Ausblicke.

"Zunächst trat diese Gesetzgebung als eine negative auf. Die erste hierher
bezügliche Vorlage im Reichstage, das sogenannte Contractbruchgesetz, rief
sehr weitgehende Meinungsverschiedenheiten hervor, namentlich unter den liberalen
Parteien. Wenn man auch über die Gefährlichkeit, besonders der willkürlichen
Arbeitseinstellungen in Masse einig war, so war doch die Mehrzahl der Meinung,
derartige Ausnahmegesetze seien zu vermeiden. Ein Theil der Liberalen und die
meisten Conservativen machten dagegen geltend, daß außergewöhnliche Uebel-
stände auch durch außergewöhnliche Mittel bekämpft werden müßten. Der Rechen¬
schaftsbericht der Nationnlliberalen bemerkte damals: Unumgänglich ist es, daß
wir die Coalitionsfreiheit mit Schranken umgeben, durch welche die Sicherheit
der nicht strikelustigen Arbeiter hergestellt, das Vermöge" der Arbeiter vor fri¬
voler Beschädigung geschützt und das öffentliche Interesse gewahrt wird, welches
durch den auf ganze Industriezweige sowie auf die Landwirthschaft zerstörend
wirkenden dolosen Contractbruch schwere Schädigung erfährt. Also Anerkennung
des Grundgedankens des Reichskanzlers, Billigung des Kerns der Vorlage, aber
die "Bedenken" verhindern jedes Resultat."

Auch 1875 beschäftigte man sich im Reichstage bei den Verhandlungen über
die Strafgesetznovelle mit diesen Fragen. Die Gesetzgebung blieb auch jetzt den
Ausschreitungen der Socialdemokratie gegenüber unzulänglich. Die letztere war
in fortdauerndem Wachsthum begriffen. Bei den Reichstagswahlen von 1371
hatte sie über drei, bei denen von 1877 dagegen beinahe über neun Procent
der giltigen Stimmen verfügt, und von 5 535 785 Votanten hatten 481 V08
socialistischen Candidaten ihre Stimme gegeben. Trotzdem sträubte sich noch
immer ein großer Theil der Liberalen gegen Repressivmaßrcgeln, gegen Aus¬
nahmegesetze, und einige Idealisten besaßen die Naivetät, zu erklären, uur auf
dem Wege der Belehrung könne das Uebel beseitigt werden. Das Attentat,
welches der Klempnergeselle Hödel am 11. Mai 1878 gegen den Kaiser aus¬
führte, zeigte dem Volke, vor welchem Abgrunde man stand, aber seine liberalen
Vertreter wollten ihn nicht sehen. Fürst Bismarck erließ schon am 12. Mai
aus Varzin die Weisung nach Berlin, es sei eine Gesetzvorläge gegen social¬
demokratische Ausschreitungen auszuarbeiten. Dieselbe wurde am 20. Mai vom
Bundesrathe angenommen. Sie trug Spuren von Erregung und Eile an sich,
aber nicht diese Mängel, sondern die auch früher geltend gemachte Doctrin, daß
der Kampf gegen die rothe Hydra auf dem Boden des gemeinen Rechts aus¬
gefochten werden müsse, ließ sie scheitern. Vergebens ließen die gemäßigt Libe¬
ralen im Lande sehr vernehmlich ihren Wunsch nach Annahme des Entwurfs
hören, umsonst stellten sie vor, daß diese Abstimmung wesentlich auf den parla¬
mentarischen Bestand der liberalen Fractionen wirken müsse. Der Advocatengcist
derselben behielt die Oberhand, das Interesse für juristische Spitzfindigkeiten
überwog das Staatsinteresse, Kurzsichtigkeit wurde für Weitsichtigkeit ausge¬
geben. Die Fortschrittspartei war selbstverständlich gegen das Gesetz. Nicht so


Politische Rückblicke und Ausblicke.

„Zunächst trat diese Gesetzgebung als eine negative auf. Die erste hierher
bezügliche Vorlage im Reichstage, das sogenannte Contractbruchgesetz, rief
sehr weitgehende Meinungsverschiedenheiten hervor, namentlich unter den liberalen
Parteien. Wenn man auch über die Gefährlichkeit, besonders der willkürlichen
Arbeitseinstellungen in Masse einig war, so war doch die Mehrzahl der Meinung,
derartige Ausnahmegesetze seien zu vermeiden. Ein Theil der Liberalen und die
meisten Conservativen machten dagegen geltend, daß außergewöhnliche Uebel-
stände auch durch außergewöhnliche Mittel bekämpft werden müßten. Der Rechen¬
schaftsbericht der Nationnlliberalen bemerkte damals: Unumgänglich ist es, daß
wir die Coalitionsfreiheit mit Schranken umgeben, durch welche die Sicherheit
der nicht strikelustigen Arbeiter hergestellt, das Vermöge» der Arbeiter vor fri¬
voler Beschädigung geschützt und das öffentliche Interesse gewahrt wird, welches
durch den auf ganze Industriezweige sowie auf die Landwirthschaft zerstörend
wirkenden dolosen Contractbruch schwere Schädigung erfährt. Also Anerkennung
des Grundgedankens des Reichskanzlers, Billigung des Kerns der Vorlage, aber
die »Bedenken« verhindern jedes Resultat."

Auch 1875 beschäftigte man sich im Reichstage bei den Verhandlungen über
die Strafgesetznovelle mit diesen Fragen. Die Gesetzgebung blieb auch jetzt den
Ausschreitungen der Socialdemokratie gegenüber unzulänglich. Die letztere war
in fortdauerndem Wachsthum begriffen. Bei den Reichstagswahlen von 1371
hatte sie über drei, bei denen von 1877 dagegen beinahe über neun Procent
der giltigen Stimmen verfügt, und von 5 535 785 Votanten hatten 481 V08
socialistischen Candidaten ihre Stimme gegeben. Trotzdem sträubte sich noch
immer ein großer Theil der Liberalen gegen Repressivmaßrcgeln, gegen Aus¬
nahmegesetze, und einige Idealisten besaßen die Naivetät, zu erklären, uur auf
dem Wege der Belehrung könne das Uebel beseitigt werden. Das Attentat,
welches der Klempnergeselle Hödel am 11. Mai 1878 gegen den Kaiser aus¬
führte, zeigte dem Volke, vor welchem Abgrunde man stand, aber seine liberalen
Vertreter wollten ihn nicht sehen. Fürst Bismarck erließ schon am 12. Mai
aus Varzin die Weisung nach Berlin, es sei eine Gesetzvorläge gegen social¬
demokratische Ausschreitungen auszuarbeiten. Dieselbe wurde am 20. Mai vom
Bundesrathe angenommen. Sie trug Spuren von Erregung und Eile an sich,
aber nicht diese Mängel, sondern die auch früher geltend gemachte Doctrin, daß
der Kampf gegen die rothe Hydra auf dem Boden des gemeinen Rechts aus¬
gefochten werden müsse, ließ sie scheitern. Vergebens ließen die gemäßigt Libe¬
ralen im Lande sehr vernehmlich ihren Wunsch nach Annahme des Entwurfs
hören, umsonst stellten sie vor, daß diese Abstimmung wesentlich auf den parla¬
mentarischen Bestand der liberalen Fractionen wirken müsse. Der Advocatengcist
derselben behielt die Oberhand, das Interesse für juristische Spitzfindigkeiten
überwog das Staatsinteresse, Kurzsichtigkeit wurde für Weitsichtigkeit ausge¬
geben. Die Fortschrittspartei war selbstverständlich gegen das Gesetz. Nicht so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/98>, abgerufen am 09.06.2024.