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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Politische Rückblicke und Ausblicke,

selbstverständlich scheint es, daß am 22. Mai auch die Nationalliberalen in ihrer
Fractionssitzung einstimmig den Beschluß faßten, dasselbe abzulehnen, und ganz
erstaunlich mußte es jedem Unbefangenen vorkommen, daß es am 24. mit der
colossalen Mehrheit von 261 gegen 57 Stimmen vom Reichstage verworfen
wurde.

Am 2. Juni, also fast unmittelbar nach der Ablehnung, folgte das Attentat
Nobilings. Ein Schrei der Entrüstung erscholl durch ganz Deutschland, und
derselbe galt keineswegs bloß der Socialdemokratie, mit deren Tendenz und
Agitation die beiden Schandthaten in engem Zusammenhange standen, sondern
anch der Widerwilligkeit der liberalen Doctrinäre im Reichstage. Die Regierung
konnte demselben nach seiner damaligen Zusammensetzung in dieser AngelegenIM
nicht vertrauen, und so beantragte der Reichskanzler beim Bundesrathe die Auf¬
lösung desselben, die am 6. Juni einstimmig beschlossen wurde. Die Neuwahlen
wurden für den 3V. Juli ausgeschrieben. Das Ergebniß derselben war eine er¬
hebliche Verstärkung der beiden conservativen Fractionen auf Kosten der National¬
liberalen und der Fortschrittspartei.

"Der neueste Rechenschaftsbericht der nationalen," sagt der Verfasser unsrer
Schrift, "behauptet, nach dem zweiten Attentate würde die Mehrheit für die
Vorlage gestimmt haben. Woher der Berichterstatter dies weiß, ist mir unbe¬
kannt; ich zweifle, ob die Mehrheit dies selbst wußte, und zweifle noch mehr,
daß sie, von neuem einberufen, in der verdichteten Luft des Parlaments sich
den eben erst laut und mit Entschiedenheit geltend gemachten Gegengründen
hätte entziehen können oder wollen. Jedenfalls ist es höchst unberechtigt, dem
Reichskanzler es aufs Kerbholz zu schreiben, daß er diesen Reichstag auflöste,
der eben erst mit überwältigender Majorität und unter langen juristischen, po¬
litischen und moralischen Betrachtungen die Vorlage abgelehnt hatte. Es ist
aber geradezu geschmacklos, heute wieder mit solchen billigen Prophezeiungen
hervorzutreten. Man hatte jedenfalls damals die Tragweite des Beschlusses
nicht erkannt und ging mit dem Centrum, das sich bei der Beschaffenheit seiner
Wählerschaft dergleichen Dinge ohne Schaden gestatten kann."

Dem am 9. September eröffneten neuen Reichstage wurde das Socialisten¬
gesetz in andrer und präciser gefaßter Form vorgelegt. In der Rede, welche
der Reichskanzler bei der Generaldebatte über dasselbe hielt, schloß er mit den
Worten: "Wenn wir in einer solchen Weise unter der Tyrannei einer Gesell¬
schaft von Banditen existiren sollen, dann verliert jede Existenz ihren Werth,
und ich hoffe, daß der Reichstag den Regierungen, dem Kaiser, der den Schutz
für seine Person, für seine preußischen Unterthanen und seine deutschen Lands¬
leute verlangt, zur Seite stehen werde. Daß bei dieser Gelegenheit vielleicht
einige Opfer des Meuchelmordes unter uns noch fallen werden, ist wohl sehr
möglich; aber jeder, dem das geschehen möchte, mag eingedenk sein, daß er zum
Nutzen, zum großen Nutzen seines Vaterlandes auf dem Schlachtfelde der Ehre


Politische Rückblicke und Ausblicke,

selbstverständlich scheint es, daß am 22. Mai auch die Nationalliberalen in ihrer
Fractionssitzung einstimmig den Beschluß faßten, dasselbe abzulehnen, und ganz
erstaunlich mußte es jedem Unbefangenen vorkommen, daß es am 24. mit der
colossalen Mehrheit von 261 gegen 57 Stimmen vom Reichstage verworfen
wurde.

Am 2. Juni, also fast unmittelbar nach der Ablehnung, folgte das Attentat
Nobilings. Ein Schrei der Entrüstung erscholl durch ganz Deutschland, und
derselbe galt keineswegs bloß der Socialdemokratie, mit deren Tendenz und
Agitation die beiden Schandthaten in engem Zusammenhange standen, sondern
anch der Widerwilligkeit der liberalen Doctrinäre im Reichstage. Die Regierung
konnte demselben nach seiner damaligen Zusammensetzung in dieser AngelegenIM
nicht vertrauen, und so beantragte der Reichskanzler beim Bundesrathe die Auf¬
lösung desselben, die am 6. Juni einstimmig beschlossen wurde. Die Neuwahlen
wurden für den 3V. Juli ausgeschrieben. Das Ergebniß derselben war eine er¬
hebliche Verstärkung der beiden conservativen Fractionen auf Kosten der National¬
liberalen und der Fortschrittspartei.

„Der neueste Rechenschaftsbericht der nationalen," sagt der Verfasser unsrer
Schrift, „behauptet, nach dem zweiten Attentate würde die Mehrheit für die
Vorlage gestimmt haben. Woher der Berichterstatter dies weiß, ist mir unbe¬
kannt; ich zweifle, ob die Mehrheit dies selbst wußte, und zweifle noch mehr,
daß sie, von neuem einberufen, in der verdichteten Luft des Parlaments sich
den eben erst laut und mit Entschiedenheit geltend gemachten Gegengründen
hätte entziehen können oder wollen. Jedenfalls ist es höchst unberechtigt, dem
Reichskanzler es aufs Kerbholz zu schreiben, daß er diesen Reichstag auflöste,
der eben erst mit überwältigender Majorität und unter langen juristischen, po¬
litischen und moralischen Betrachtungen die Vorlage abgelehnt hatte. Es ist
aber geradezu geschmacklos, heute wieder mit solchen billigen Prophezeiungen
hervorzutreten. Man hatte jedenfalls damals die Tragweite des Beschlusses
nicht erkannt und ging mit dem Centrum, das sich bei der Beschaffenheit seiner
Wählerschaft dergleichen Dinge ohne Schaden gestatten kann."

Dem am 9. September eröffneten neuen Reichstage wurde das Socialisten¬
gesetz in andrer und präciser gefaßter Form vorgelegt. In der Rede, welche
der Reichskanzler bei der Generaldebatte über dasselbe hielt, schloß er mit den
Worten: „Wenn wir in einer solchen Weise unter der Tyrannei einer Gesell¬
schaft von Banditen existiren sollen, dann verliert jede Existenz ihren Werth,
und ich hoffe, daß der Reichstag den Regierungen, dem Kaiser, der den Schutz
für seine Person, für seine preußischen Unterthanen und seine deutschen Lands¬
leute verlangt, zur Seite stehen werde. Daß bei dieser Gelegenheit vielleicht
einige Opfer des Meuchelmordes unter uns noch fallen werden, ist wohl sehr
möglich; aber jeder, dem das geschehen möchte, mag eingedenk sein, daß er zum
Nutzen, zum großen Nutzen seines Vaterlandes auf dem Schlachtfelde der Ehre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/99>, abgerufen am 31.05.2024.