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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Zu Goethes Leipziger Studentenzeit.

schon 1743 durch die Aufführungen von Voltaires "Semiramis" abgeschafft
worden war, sich aber in den französischen Provinztheatern noch jahrelang hielt,
1759 anch von dem Knaben Goethe noch während der französischen Okkupation
in Frankfurt auf dem französischen Theater "erlebt und mit Angen gesehen wurde"
(Dichtung und Wahrheit, 3, Buch), hatte sich in Leipzig bis 1766 erhalten und
wurde erst mit der Eröffnung des neuen Hauses für immer beseitigt.

An diese Feststellung eines nicht unwichtigen Datums aus der deutschen
Theatergeschichte möge gleich noch eine andre kleine Berichtigung angeschlossen
sein. Goethe erzählt im achten Buche von "Dichtung und Wahrheit," daß, als
Oeser auf dem großen Boden des neuen Theaters um Thcntervorhang gemalt
habe, feilte Schüler sich oft um ihn versammelt hätten, und daß er den: Meister
bei dieser Gelegenheit die Aushängebogen von Wielands "Musarion" vorgelesen
habe. Oder wie er im siebenten Buche bei andrer Gelegenheit noch be¬
stimmter sagt: "Musarion wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch
des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht
bekam, welchen mir Oeser mitteilte."

Schon Löper hat in seinem Kommentar zu "Dichtung und Wahrheit"
richtig bemerkt, daß hier ein Gedüchtnisfehler Goethes vorliegen müsse. Den
Thentervvrhcmg malte Oeser im Sommer 1766, die erste Aufgabe der "Musarion"
aber trägt die Jahreszahl 1768: sie wurde dem Verleger, Reich, erst im Sommer
1768 zur Durchsicht zugesandt und erschien jedenfalls zur Michaelismesse.*)
Wenn also wirklich Goethe Oesern die Aushängebogen der Dichtung bei seiner
Arbeit im Theater vorgelesen hat, so kann dies nur bei der Anfertigung von
Dekorationen geschehen sein, wie sie Oeser in der Folge ebenfalls für das Theater
herstellte. Nun fragt man sich aber doch: Wie kam Oeser zu den Aushänge¬
bogen von Wielands "Musarion"? Denn in Oesers, nicht in Goethes Händen
haben wir sie uns nach Goethes eigner bestimmter Erzählung zuerst zu denken.^)

Die Sache erklärt sich wohl folgendermaßen. Oeser hatte für den Ver¬
leger Wielands, Reich, die Vignette zu dem Titelblatt der "Musarion" geliefert.
Dies Titelblatt bildet, wie es damals die Regel war, das erste Blatt des ersten
Bogens, und so war es selbstverständlich, daß Reich Abzüge dieses Bogens und
dann auch die weitern Aushängebogen Oesern zusandte. Natürlich mußte dieser
die Dichtung vorher bereits aus dem Manuskript flüchtig kennen gelernt haben,
wie hätte er sonst eine Szene daraus illustriren sollen? Trotzdem konnte er
den Wunsch hegen, nach dem Drucke das Ganze nochmals bequem zu genießen.




Löper meint, zu Ostern. Vgl. jedoch K, Buchner, Wieland und die Weidmannschc
Buchhandlung. S. 31.
**) Biedermann (Goethe und Leipzig I, S. 86) dreht die Sache herum, wenn er schreibt:
"Musarion äußerte eine lebhafte Wirkung auf ihn, und er beeilte sich, die Aushängebogen
sofort seinem Lehrer Oeser vorzulegen." Auch Düntzer erzählt falsch (S. 88): "Reich teilte
dium Genesenden Wvethel die ersten Bogen des eben im Druck begriffenen Gedichts mit."
Zu Goethes Leipziger Studentenzeit.

schon 1743 durch die Aufführungen von Voltaires „Semiramis" abgeschafft
worden war, sich aber in den französischen Provinztheatern noch jahrelang hielt,
1759 anch von dem Knaben Goethe noch während der französischen Okkupation
in Frankfurt auf dem französischen Theater „erlebt und mit Angen gesehen wurde"
(Dichtung und Wahrheit, 3, Buch), hatte sich in Leipzig bis 1766 erhalten und
wurde erst mit der Eröffnung des neuen Hauses für immer beseitigt.

An diese Feststellung eines nicht unwichtigen Datums aus der deutschen
Theatergeschichte möge gleich noch eine andre kleine Berichtigung angeschlossen
sein. Goethe erzählt im achten Buche von „Dichtung und Wahrheit," daß, als
Oeser auf dem großen Boden des neuen Theaters um Thcntervorhang gemalt
habe, feilte Schüler sich oft um ihn versammelt hätten, und daß er den: Meister
bei dieser Gelegenheit die Aushängebogen von Wielands „Musarion" vorgelesen
habe. Oder wie er im siebenten Buche bei andrer Gelegenheit noch be¬
stimmter sagt: „Musarion wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch
des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht
bekam, welchen mir Oeser mitteilte."

Schon Löper hat in seinem Kommentar zu „Dichtung und Wahrheit"
richtig bemerkt, daß hier ein Gedüchtnisfehler Goethes vorliegen müsse. Den
Thentervvrhcmg malte Oeser im Sommer 1766, die erste Aufgabe der „Musarion"
aber trägt die Jahreszahl 1768: sie wurde dem Verleger, Reich, erst im Sommer
1768 zur Durchsicht zugesandt und erschien jedenfalls zur Michaelismesse.*)
Wenn also wirklich Goethe Oesern die Aushängebogen der Dichtung bei seiner
Arbeit im Theater vorgelesen hat, so kann dies nur bei der Anfertigung von
Dekorationen geschehen sein, wie sie Oeser in der Folge ebenfalls für das Theater
herstellte. Nun fragt man sich aber doch: Wie kam Oeser zu den Aushänge¬
bogen von Wielands „Musarion"? Denn in Oesers, nicht in Goethes Händen
haben wir sie uns nach Goethes eigner bestimmter Erzählung zuerst zu denken.^)

Die Sache erklärt sich wohl folgendermaßen. Oeser hatte für den Ver¬
leger Wielands, Reich, die Vignette zu dem Titelblatt der „Musarion" geliefert.
Dies Titelblatt bildet, wie es damals die Regel war, das erste Blatt des ersten
Bogens, und so war es selbstverständlich, daß Reich Abzüge dieses Bogens und
dann auch die weitern Aushängebogen Oesern zusandte. Natürlich mußte dieser
die Dichtung vorher bereits aus dem Manuskript flüchtig kennen gelernt haben,
wie hätte er sonst eine Szene daraus illustriren sollen? Trotzdem konnte er
den Wunsch hegen, nach dem Drucke das Ganze nochmals bequem zu genießen.




Löper meint, zu Ostern. Vgl. jedoch K, Buchner, Wieland und die Weidmannschc
Buchhandlung. S. 31.
**) Biedermann (Goethe und Leipzig I, S. 86) dreht die Sache herum, wenn er schreibt:
„Musarion äußerte eine lebhafte Wirkung auf ihn, und er beeilte sich, die Aushängebogen
sofort seinem Lehrer Oeser vorzulegen." Auch Düntzer erzählt falsch (S. 88): „Reich teilte
dium Genesenden Wvethel die ersten Bogen des eben im Druck begriffenen Gedichts mit."
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[0129] Zu Goethes Leipziger Studentenzeit. schon 1743 durch die Aufführungen von Voltaires „Semiramis" abgeschafft worden war, sich aber in den französischen Provinztheatern noch jahrelang hielt, 1759 anch von dem Knaben Goethe noch während der französischen Okkupation in Frankfurt auf dem französischen Theater „erlebt und mit Angen gesehen wurde" (Dichtung und Wahrheit, 3, Buch), hatte sich in Leipzig bis 1766 erhalten und wurde erst mit der Eröffnung des neuen Hauses für immer beseitigt. An diese Feststellung eines nicht unwichtigen Datums aus der deutschen Theatergeschichte möge gleich noch eine andre kleine Berichtigung angeschlossen sein. Goethe erzählt im achten Buche von „Dichtung und Wahrheit," daß, als Oeser auf dem großen Boden des neuen Theaters um Thcntervorhang gemalt habe, feilte Schüler sich oft um ihn versammelt hätten, und daß er den: Meister bei dieser Gelegenheit die Aushängebogen von Wielands „Musarion" vorgelesen habe. Oder wie er im siebenten Buche bei andrer Gelegenheit noch be¬ stimmter sagt: „Musarion wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht bekam, welchen mir Oeser mitteilte." Schon Löper hat in seinem Kommentar zu „Dichtung und Wahrheit" richtig bemerkt, daß hier ein Gedüchtnisfehler Goethes vorliegen müsse. Den Thentervvrhcmg malte Oeser im Sommer 1766, die erste Aufgabe der „Musarion" aber trägt die Jahreszahl 1768: sie wurde dem Verleger, Reich, erst im Sommer 1768 zur Durchsicht zugesandt und erschien jedenfalls zur Michaelismesse.*) Wenn also wirklich Goethe Oesern die Aushängebogen der Dichtung bei seiner Arbeit im Theater vorgelesen hat, so kann dies nur bei der Anfertigung von Dekorationen geschehen sein, wie sie Oeser in der Folge ebenfalls für das Theater herstellte. Nun fragt man sich aber doch: Wie kam Oeser zu den Aushänge¬ bogen von Wielands „Musarion"? Denn in Oesers, nicht in Goethes Händen haben wir sie uns nach Goethes eigner bestimmter Erzählung zuerst zu denken.^) Die Sache erklärt sich wohl folgendermaßen. Oeser hatte für den Ver¬ leger Wielands, Reich, die Vignette zu dem Titelblatt der „Musarion" geliefert. Dies Titelblatt bildet, wie es damals die Regel war, das erste Blatt des ersten Bogens, und so war es selbstverständlich, daß Reich Abzüge dieses Bogens und dann auch die weitern Aushängebogen Oesern zusandte. Natürlich mußte dieser die Dichtung vorher bereits aus dem Manuskript flüchtig kennen gelernt haben, wie hätte er sonst eine Szene daraus illustriren sollen? Trotzdem konnte er den Wunsch hegen, nach dem Drucke das Ganze nochmals bequem zu genießen. Löper meint, zu Ostern. Vgl. jedoch K, Buchner, Wieland und die Weidmannschc Buchhandlung. S. 31. **) Biedermann (Goethe und Leipzig I, S. 86) dreht die Sache herum, wenn er schreibt: „Musarion äußerte eine lebhafte Wirkung auf ihn, und er beeilte sich, die Aushängebogen sofort seinem Lehrer Oeser vorzulegen." Auch Düntzer erzählt falsch (S. 88): „Reich teilte dium Genesenden Wvethel die ersten Bogen des eben im Druck begriffenen Gedichts mit."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/129>, abgerufen am 17.06.2024.