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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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erlebte. Jensens hübscheste Klavierstücke stehen in den "Wanderbildern," einem
Cyklus, den jugendlicher Frohsinn und glückliche Stimmung durchwehen. Da
ist noch alles frisch und natürlich und wenig von der kranken Süßlichkeit und
Sentimentalität, die sich spater bei dem leidenden Künstler zur Manie ausbildete.
Die beideu Nummern "Mühle" und "Frohsinn im Dorfe" erinnern an die Naivetät
und die leichte Hand Franz Schuberts. Auch in den "Innern Stimmen" und
in den "Romantischen Studien" stehen frische Bilder, wie die Humoreske "Im
Walde" mit dem verworrenen Hörnerklang und das "Jagdstück" mit der Huude-
hetze, intime Poesie, wie "Stille Liebe," "Schwermut" und "Nachklang." Mit
größern Formen wollte es Imsen nicht glücken. Seine Sonate (op. 24) bewegt
sich in teilweise sehr mühsamen Übergängen von einem Schumannschen Gedanken¬
schnitzel zum andern. Reich, aber einseitig begabt, hatte er die rechte Zeit ver¬
säumt, zu einem selbständigen Stile durchzudringen. Erst in Schumannschen,
dünn in Chvpiuschen Banden, verfiel er später Wagner und dessen Pathos und
Dissonanzen, und das Schmachten und Winden wurde immer ärger. Daß er
den Weg suchte zur Freiheit, zeigt auch ein Gang durch seine Klavierkompo¬
sitionen. Lehrreich ist in dieser Beziehung das Heft "Sturm und Drang," ein
Cyklus, der im Inhalt reizlos und arm, in der Form einer Sonate gleicht.
Im letzten Satze wird nach dem Muster der neunten Symphonie von Beethoven
ein rhetorischer Rückblick veranstaltet. Die "Idyllen," Randzeichnungen zu Stellen
griechischer Dichter, sind seine letzten Klavierkompositivnen. Phantasie und
Stimmung versagen hier schon vollständig, tastend sucht sich der gequälte Kom¬
ponist das Nötige zusammen. Ein Rest von Genialität spricht aber trotzdem
noch aus diesem Skizzen!

Die Klavierkomposition der letzten zehn oder zwölf Jahre zeigt insofern
eine neue Wendung, als Deutschland nicht mehr allein und ausschließlich das
Wort führt. Vier Künstler, die an der Spitze der jüngsten Klavierkvmposition
stehen, sind hier zu nennen: Grieg, Tschaikowshy, Dovre schal und Saint-
Saens, ein Norweger, ein Russe, ein Böhme, ein Franzose.

In verschiedenem Grade Vertreter nationaler Musikelemente, sind sie alle
gleich gut ausgebildete Musiker. Es entspricht dem Aneiennetätsverhältnisse,
daß Saint-Säens (geboren 1835) auch an Reife voransteht. Er genoß, mit
dem empfänglichsten Musiksinn geboren, frühzeitig die beste musikalische Erziehung
und spielte zu eiuer Zeit, wo andre Kinder noch mit den Buchstaben kämpfen,
bereits Bachs " Wohltemperirtes Klavier" oosur. Alte Musikzeitungeu
bringen die wunderbarsten Notizen über ihn. "Vierjährig improvisirte er die
schönsten Walzer." Als Wagner 1860 für eine Sängerin der Großen Oper
eine neue Szene im "Tannhäuser" komponirt hatte, begleitete sie der junge Saiut-
Saens nicht bloß prima vllo aus der Partitur, sondern transpvnirte auch ohne
Stocken das verwickelte Stück in die von der Sängerin verlangte Tonart. Diese
vorzügliche Schule ist es, welche auch seinen Klavierkompositionen allen einen


erlebte. Jensens hübscheste Klavierstücke stehen in den „Wanderbildern," einem
Cyklus, den jugendlicher Frohsinn und glückliche Stimmung durchwehen. Da
ist noch alles frisch und natürlich und wenig von der kranken Süßlichkeit und
Sentimentalität, die sich spater bei dem leidenden Künstler zur Manie ausbildete.
Die beideu Nummern „Mühle" und „Frohsinn im Dorfe" erinnern an die Naivetät
und die leichte Hand Franz Schuberts. Auch in den „Innern Stimmen" und
in den „Romantischen Studien" stehen frische Bilder, wie die Humoreske „Im
Walde" mit dem verworrenen Hörnerklang und das „Jagdstück" mit der Huude-
hetze, intime Poesie, wie „Stille Liebe," „Schwermut" und „Nachklang." Mit
größern Formen wollte es Imsen nicht glücken. Seine Sonate (op. 24) bewegt
sich in teilweise sehr mühsamen Übergängen von einem Schumannschen Gedanken¬
schnitzel zum andern. Reich, aber einseitig begabt, hatte er die rechte Zeit ver¬
säumt, zu einem selbständigen Stile durchzudringen. Erst in Schumannschen,
dünn in Chvpiuschen Banden, verfiel er später Wagner und dessen Pathos und
Dissonanzen, und das Schmachten und Winden wurde immer ärger. Daß er
den Weg suchte zur Freiheit, zeigt auch ein Gang durch seine Klavierkompo¬
sitionen. Lehrreich ist in dieser Beziehung das Heft „Sturm und Drang," ein
Cyklus, der im Inhalt reizlos und arm, in der Form einer Sonate gleicht.
Im letzten Satze wird nach dem Muster der neunten Symphonie von Beethoven
ein rhetorischer Rückblick veranstaltet. Die „Idyllen," Randzeichnungen zu Stellen
griechischer Dichter, sind seine letzten Klavierkompositivnen. Phantasie und
Stimmung versagen hier schon vollständig, tastend sucht sich der gequälte Kom¬
ponist das Nötige zusammen. Ein Rest von Genialität spricht aber trotzdem
noch aus diesem Skizzen!

Die Klavierkomposition der letzten zehn oder zwölf Jahre zeigt insofern
eine neue Wendung, als Deutschland nicht mehr allein und ausschließlich das
Wort führt. Vier Künstler, die an der Spitze der jüngsten Klavierkvmposition
stehen, sind hier zu nennen: Grieg, Tschaikowshy, Dovre schal und Saint-
Saens, ein Norweger, ein Russe, ein Böhme, ein Franzose.

In verschiedenem Grade Vertreter nationaler Musikelemente, sind sie alle
gleich gut ausgebildete Musiker. Es entspricht dem Aneiennetätsverhältnisse,
daß Saint-Säens (geboren 1835) auch an Reife voransteht. Er genoß, mit
dem empfänglichsten Musiksinn geboren, frühzeitig die beste musikalische Erziehung
und spielte zu eiuer Zeit, wo andre Kinder noch mit den Buchstaben kämpfen,
bereits Bachs „ Wohltemperirtes Klavier" oosur. Alte Musikzeitungeu
bringen die wunderbarsten Notizen über ihn. „Vierjährig improvisirte er die
schönsten Walzer." Als Wagner 1860 für eine Sängerin der Großen Oper
eine neue Szene im „Tannhäuser" komponirt hatte, begleitete sie der junge Saiut-
Saens nicht bloß prima vllo aus der Partitur, sondern transpvnirte auch ohne
Stocken das verwickelte Stück in die von der Sängerin verlangte Tonart. Diese
vorzügliche Schule ist es, welche auch seinen Klavierkompositionen allen einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/140>, abgerufen am 17.06.2024.