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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Gin Blick ans Italien,

der Natur und Geschichte entsprechend, ja im Interesse schöner Mannichfaltig-
keit der Erhaltung wert. Nach den Zuckungen, welche die Februarrevolution
von 1848 hervorgerufen hatte, nach dem unglücklichen Kampfe Piemonts mit der
österreichischen Übermacht war die Lage noch hoffnungsloser geworden. Chi¬
märe schien es, wenn jemand noch an Befreiung vom Fremdenjoch und Einigung
der getrennten Teile zu Gliedern eines Staatskörpers sprach. Und siehe da,
1370 war beides vollendet, allerdings nicht ganz durch die eigne Kraft, aber
immerhin eins der größten Wunder unsrer Tage, und immerhin durch wesent¬
liche Mitwirkung Italiens selbst und seines nunmehrigen Königs zustande ge¬
kommen.

Es war kein leichtes Werk gewesen. Erst 1866 war den Venetianern ge¬
stattet worden, sich ihren Brüdern anzuschließen, und die Hauptstadt Rom wurde
erst vier Jahre später gewonnen. Während der Zeit voll Sorge und Ungewi߬
heit, die von 1860 bis lange nach 1870 währte, haben die Italiener mit Feinden
im Auslande wie im Innern zu ringen gehabt, und nur kurze Zeit stand dabei
ein Mann wie Cavour an ihrer Spitze. Sie hatten Österreich mit den Waffen
zu bekämpfen, Frankreichs Geboten und Verboten nach Möglichkeit Widerstand
zu leisten, Garibaldi und der Jrredenta Zaum und Zügel anzulegen und der
altherkömmlichen Autorität des Papstes mit ihrer Einwirkung auf die Bischöfe
des Landes sowie dem Fanatismus der gesammten katholischen Welt, der auf
Wiederherstellung des Kirchenstaates drang, gegenüberzutreten. Sie hatten viel¬
fach verschiedne Provinzen -- man denke an Sizilien und Toskana -- zu einer
Nationalität zu verschmelzen und während der Lebenszeit einer einzigen Gene¬
ration einen Staat aufzurichten, der im Altertume Jahrhunderte zu seiner Ent¬
wicklung bedürfte. Prüfen wir ihr Verhalten in dieser Periode des Wachstums
mit dem politischen Mikroskop, so entdecken wir nicht wenige Irrtümer und Mi߬
griffe. Blicken wir aber länger auf die Stadien zurück, die sie hinter sich haben,
so sehen wir, daß doch ungemein viel geschehen ist, und daß sie es trotz sehr
bedeutender Schwierigkeiten im ganzen recht gut gemacht haben. Die Nation ist
eins geworden, ihr Heer läßt zwar zu wünschen übrig, ist aber eine gute
Schule für das Volk und auch sonst nicht gering zu achten, ihre Kriegsflotte
ist sehr respektabel. Das Land hat in jeder Beziehung Fortschritte gemacht,
auf dem wichtigen Gebiete der Finanzen, der Besteuerung und der Valuta,
in Betreff des Handels und in Bezug auf das Unterrichtswesen. "Durch
die ganze Halbinsel, sagt Hehn, von Nord nach Süd, vom adriatischen bis
zum tyrrhenischen Meere, Eisenbahnen zu raschester Verbindung, uirgeuds Gepäck¬
besichtigung oder polizeiliche Ausweise, ein Zoll-und Handelsgesetz, eine Münze,
eine Justiz. . . Jeder kaun drucken, was er will, er kann, wenn es ihm so ge¬
fällt, ohne Priester heirate", und auch zu Geburt und Tod ist weder Geläut
noch Weihwasser nötig. Die Zensur ist spurlos verschwunden, und es wimmelt
aller Orten von Zeitungen, darunter sogar republikanische und freimaurerische."


Gin Blick ans Italien,

der Natur und Geschichte entsprechend, ja im Interesse schöner Mannichfaltig-
keit der Erhaltung wert. Nach den Zuckungen, welche die Februarrevolution
von 1848 hervorgerufen hatte, nach dem unglücklichen Kampfe Piemonts mit der
österreichischen Übermacht war die Lage noch hoffnungsloser geworden. Chi¬
märe schien es, wenn jemand noch an Befreiung vom Fremdenjoch und Einigung
der getrennten Teile zu Gliedern eines Staatskörpers sprach. Und siehe da,
1370 war beides vollendet, allerdings nicht ganz durch die eigne Kraft, aber
immerhin eins der größten Wunder unsrer Tage, und immerhin durch wesent¬
liche Mitwirkung Italiens selbst und seines nunmehrigen Königs zustande ge¬
kommen.

Es war kein leichtes Werk gewesen. Erst 1866 war den Venetianern ge¬
stattet worden, sich ihren Brüdern anzuschließen, und die Hauptstadt Rom wurde
erst vier Jahre später gewonnen. Während der Zeit voll Sorge und Ungewi߬
heit, die von 1860 bis lange nach 1870 währte, haben die Italiener mit Feinden
im Auslande wie im Innern zu ringen gehabt, und nur kurze Zeit stand dabei
ein Mann wie Cavour an ihrer Spitze. Sie hatten Österreich mit den Waffen
zu bekämpfen, Frankreichs Geboten und Verboten nach Möglichkeit Widerstand
zu leisten, Garibaldi und der Jrredenta Zaum und Zügel anzulegen und der
altherkömmlichen Autorität des Papstes mit ihrer Einwirkung auf die Bischöfe
des Landes sowie dem Fanatismus der gesammten katholischen Welt, der auf
Wiederherstellung des Kirchenstaates drang, gegenüberzutreten. Sie hatten viel¬
fach verschiedne Provinzen — man denke an Sizilien und Toskana — zu einer
Nationalität zu verschmelzen und während der Lebenszeit einer einzigen Gene¬
ration einen Staat aufzurichten, der im Altertume Jahrhunderte zu seiner Ent¬
wicklung bedürfte. Prüfen wir ihr Verhalten in dieser Periode des Wachstums
mit dem politischen Mikroskop, so entdecken wir nicht wenige Irrtümer und Mi߬
griffe. Blicken wir aber länger auf die Stadien zurück, die sie hinter sich haben,
so sehen wir, daß doch ungemein viel geschehen ist, und daß sie es trotz sehr
bedeutender Schwierigkeiten im ganzen recht gut gemacht haben. Die Nation ist
eins geworden, ihr Heer läßt zwar zu wünschen übrig, ist aber eine gute
Schule für das Volk und auch sonst nicht gering zu achten, ihre Kriegsflotte
ist sehr respektabel. Das Land hat in jeder Beziehung Fortschritte gemacht,
auf dem wichtigen Gebiete der Finanzen, der Besteuerung und der Valuta,
in Betreff des Handels und in Bezug auf das Unterrichtswesen. „Durch
die ganze Halbinsel, sagt Hehn, von Nord nach Süd, vom adriatischen bis
zum tyrrhenischen Meere, Eisenbahnen zu raschester Verbindung, uirgeuds Gepäck¬
besichtigung oder polizeiliche Ausweise, ein Zoll-und Handelsgesetz, eine Münze,
eine Justiz. . . Jeder kaun drucken, was er will, er kann, wenn es ihm so ge¬
fällt, ohne Priester heirate«, und auch zu Geburt und Tod ist weder Geläut
noch Weihwasser nötig. Die Zensur ist spurlos verschwunden, und es wimmelt
aller Orten von Zeitungen, darunter sogar republikanische und freimaurerische."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/158>, abgerufen am 17.06.2024.