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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Gin Blick auf Italien.

Daß die Minister immer aus Kammermajoritüten hervorgegangen sind, erscheint
uns als kein Vorzug und Segen, wohl aber ist lobend daraus hinzuweisen, daß
Italien bis jetzt noch kein militärisches Pronunziamento und noch keine kom¬
munistische Revolution erlebt hat wie seine lateinischen Schwestern Frankreich
und Spanien.

Wenn trotzdem lange noch nicht alles so ist, wie es sein sollte, wenn sogar
finstere Befürchtungen für die Zukunft Italiens laut wurden, so liegt der Grund
hiervon zum guten Teil in der Verfassung des neuen Königreiches. Italien
gewann seine Einheit zu einer Zeit, wo der politische Rationalismus seine all¬
gemeinen, von der englischen Freiheit abstrahirten und angeblich für alle Völker
und Staaten segensreichen Forderungen zum öffentlichen Vorurteile gemacht
hatte. Selbst Halbbarbaren wie die Serben, Griechen und Rumänen sollten
mit diesem Arkanum beglückt werden und wurden mit freisinnigen Verfassungen
bedacht, wahrend diese Gabe sich nicht einmal bei den Franzosen bewahrt hatte.
Die englische Verfassung konnte den im Staatsleben wirkenden Kräften einen
sehr weiten Spielraum gestatten, da sie von der Gewohnheit der Menschen,
unter denen sie, beiläufig nicht systematisch, sondern wie ein Naturprodukt, stück¬
weise, von Fall zu Fall entstanden war, und von der monarchischen, aristokratischen
und nationalen Denkart dieser Menschen immer wieder und bis auf die neueste
Zeit, wo es anders werden will, regulirt wurde. Anderwärts mangelte dieser
Regulator, anch in Italien, und so hat auch hier das parlamentarische Regiment
nicht günstig gewirkt.

"Als es sich noch darum handelte, Italien zu schaffen und alle nationalen
Gedanken auf dieses eine Ziel zu richten, bemerkt Hehn, ein gründlicher Sach¬
kenner, da war die Turiner Rednerbühne und Presse mit der ihr innewohnenden
und agitatorischen Kraft ein mächtiger Hebel, eine erwünschte Bundesgenossin.
Seitdem aber hat der Konstitutionalismus die politische Praxis mehr aufge¬
halten als gefördert. Die Minister haben kaum Zeit, ernsthaft an des Landes
Wohl zu denken und lange vorbereitete, weise überlegte Entschließungen in lang¬
samer, ausdauernder Arbeit durchzuführen. Sie kämpfen dem souveränen Parla¬
mente gegenüber täglich um ihre Existenz, sie müssen die im Schooße der Ver¬
sammlung angesponnenen Ränke vereiteln, die Ehrgeizigen ködern, die geheimen
feinde bewachen, gegen Launen und unvorhergesehene Zufälle sich gerüstet halten,
^or allem aber die Kunst bewähren, mit erhabenen Gemeinplätzen, sophistischen
Feinheiten, überhaupt mit passenden und wohlklingenden Reden dem Ohre zu
schmeicheln und die Herzen zu gewinnen." Die eigentlichen Geschäfte kommen
der Mehrheit ver Abgeordneten langweilig vor, und "auf Bildung und Er¬
fahrung in politischer Technik wird bei der Parlamentswahl nicht gesehen. Bei
großen organischen Maßregeln . . . hat es sich immer am besten bewährt, wenn
Minister die von berufenen Praktikern entworfene Einrichtung frischweg ins
Leben rief und der Kammer überließ, das bereits bestehende Hintennach gut-


Gin Blick auf Italien.

Daß die Minister immer aus Kammermajoritüten hervorgegangen sind, erscheint
uns als kein Vorzug und Segen, wohl aber ist lobend daraus hinzuweisen, daß
Italien bis jetzt noch kein militärisches Pronunziamento und noch keine kom¬
munistische Revolution erlebt hat wie seine lateinischen Schwestern Frankreich
und Spanien.

Wenn trotzdem lange noch nicht alles so ist, wie es sein sollte, wenn sogar
finstere Befürchtungen für die Zukunft Italiens laut wurden, so liegt der Grund
hiervon zum guten Teil in der Verfassung des neuen Königreiches. Italien
gewann seine Einheit zu einer Zeit, wo der politische Rationalismus seine all¬
gemeinen, von der englischen Freiheit abstrahirten und angeblich für alle Völker
und Staaten segensreichen Forderungen zum öffentlichen Vorurteile gemacht
hatte. Selbst Halbbarbaren wie die Serben, Griechen und Rumänen sollten
mit diesem Arkanum beglückt werden und wurden mit freisinnigen Verfassungen
bedacht, wahrend diese Gabe sich nicht einmal bei den Franzosen bewahrt hatte.
Die englische Verfassung konnte den im Staatsleben wirkenden Kräften einen
sehr weiten Spielraum gestatten, da sie von der Gewohnheit der Menschen,
unter denen sie, beiläufig nicht systematisch, sondern wie ein Naturprodukt, stück¬
weise, von Fall zu Fall entstanden war, und von der monarchischen, aristokratischen
und nationalen Denkart dieser Menschen immer wieder und bis auf die neueste
Zeit, wo es anders werden will, regulirt wurde. Anderwärts mangelte dieser
Regulator, anch in Italien, und so hat auch hier das parlamentarische Regiment
nicht günstig gewirkt.

„Als es sich noch darum handelte, Italien zu schaffen und alle nationalen
Gedanken auf dieses eine Ziel zu richten, bemerkt Hehn, ein gründlicher Sach¬
kenner, da war die Turiner Rednerbühne und Presse mit der ihr innewohnenden
und agitatorischen Kraft ein mächtiger Hebel, eine erwünschte Bundesgenossin.
Seitdem aber hat der Konstitutionalismus die politische Praxis mehr aufge¬
halten als gefördert. Die Minister haben kaum Zeit, ernsthaft an des Landes
Wohl zu denken und lange vorbereitete, weise überlegte Entschließungen in lang¬
samer, ausdauernder Arbeit durchzuführen. Sie kämpfen dem souveränen Parla¬
mente gegenüber täglich um ihre Existenz, sie müssen die im Schooße der Ver¬
sammlung angesponnenen Ränke vereiteln, die Ehrgeizigen ködern, die geheimen
feinde bewachen, gegen Launen und unvorhergesehene Zufälle sich gerüstet halten,
^or allem aber die Kunst bewähren, mit erhabenen Gemeinplätzen, sophistischen
Feinheiten, überhaupt mit passenden und wohlklingenden Reden dem Ohre zu
schmeicheln und die Herzen zu gewinnen." Die eigentlichen Geschäfte kommen
der Mehrheit ver Abgeordneten langweilig vor, und „auf Bildung und Er¬
fahrung in politischer Technik wird bei der Parlamentswahl nicht gesehen. Bei
großen organischen Maßregeln . . . hat es sich immer am besten bewährt, wenn
Minister die von berufenen Praktikern entworfene Einrichtung frischweg ins
Leben rief und der Kammer überließ, das bereits bestehende Hintennach gut-


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[0159] Gin Blick auf Italien. Daß die Minister immer aus Kammermajoritüten hervorgegangen sind, erscheint uns als kein Vorzug und Segen, wohl aber ist lobend daraus hinzuweisen, daß Italien bis jetzt noch kein militärisches Pronunziamento und noch keine kom¬ munistische Revolution erlebt hat wie seine lateinischen Schwestern Frankreich und Spanien. Wenn trotzdem lange noch nicht alles so ist, wie es sein sollte, wenn sogar finstere Befürchtungen für die Zukunft Italiens laut wurden, so liegt der Grund hiervon zum guten Teil in der Verfassung des neuen Königreiches. Italien gewann seine Einheit zu einer Zeit, wo der politische Rationalismus seine all¬ gemeinen, von der englischen Freiheit abstrahirten und angeblich für alle Völker und Staaten segensreichen Forderungen zum öffentlichen Vorurteile gemacht hatte. Selbst Halbbarbaren wie die Serben, Griechen und Rumänen sollten mit diesem Arkanum beglückt werden und wurden mit freisinnigen Verfassungen bedacht, wahrend diese Gabe sich nicht einmal bei den Franzosen bewahrt hatte. Die englische Verfassung konnte den im Staatsleben wirkenden Kräften einen sehr weiten Spielraum gestatten, da sie von der Gewohnheit der Menschen, unter denen sie, beiläufig nicht systematisch, sondern wie ein Naturprodukt, stück¬ weise, von Fall zu Fall entstanden war, und von der monarchischen, aristokratischen und nationalen Denkart dieser Menschen immer wieder und bis auf die neueste Zeit, wo es anders werden will, regulirt wurde. Anderwärts mangelte dieser Regulator, anch in Italien, und so hat auch hier das parlamentarische Regiment nicht günstig gewirkt. „Als es sich noch darum handelte, Italien zu schaffen und alle nationalen Gedanken auf dieses eine Ziel zu richten, bemerkt Hehn, ein gründlicher Sach¬ kenner, da war die Turiner Rednerbühne und Presse mit der ihr innewohnenden und agitatorischen Kraft ein mächtiger Hebel, eine erwünschte Bundesgenossin. Seitdem aber hat der Konstitutionalismus die politische Praxis mehr aufge¬ halten als gefördert. Die Minister haben kaum Zeit, ernsthaft an des Landes Wohl zu denken und lange vorbereitete, weise überlegte Entschließungen in lang¬ samer, ausdauernder Arbeit durchzuführen. Sie kämpfen dem souveränen Parla¬ mente gegenüber täglich um ihre Existenz, sie müssen die im Schooße der Ver¬ sammlung angesponnenen Ränke vereiteln, die Ehrgeizigen ködern, die geheimen feinde bewachen, gegen Launen und unvorhergesehene Zufälle sich gerüstet halten, ^or allem aber die Kunst bewähren, mit erhabenen Gemeinplätzen, sophistischen Feinheiten, überhaupt mit passenden und wohlklingenden Reden dem Ohre zu schmeicheln und die Herzen zu gewinnen." Die eigentlichen Geschäfte kommen der Mehrheit ver Abgeordneten langweilig vor, und „auf Bildung und Er¬ fahrung in politischer Technik wird bei der Parlamentswahl nicht gesehen. Bei großen organischen Maßregeln . . . hat es sich immer am besten bewährt, wenn Minister die von berufenen Praktikern entworfene Einrichtung frischweg ins Leben rief und der Kammer überließ, das bereits bestehende Hintennach gut-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/159>, abgerufen am 17.06.2024.