Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Ungarns, um die Mittagsstunde die bei ihr in: Dienste stehende vierzehnjährige
Esther Solymosi, die Tochter der in demselben Orte wohnende Witwe Stefan
Solymosi, ab, um einige Einkäufe zu besorgen. Der Kaufladen lag in einem
Häuserlomplex, der von dem eigentlichen Dorfe dnrch freies Feld getrennt war;
das letztere und der Weg nach jenem Häuserkvmplex kann von einem Fenster
der Synagoge ans übersehen werden, die am Ende des eigentlichen Dorfes auf
der Westseite des freien Feldes steht. Esther drängte bei dem Kaufmann Josef
Kvhlineyer, bei dem sie die Waaren, nnter andern anch Farbe, holte, zur Eile,
Päckte dieselben in ein weiß- und gelbgewürfeltes Tuch und kehrte eilends nach
dem Dorfe zurück. Beim Eintritte in das Dorf sprach sie noch mit ihrer
ältern Schwester Sophie und wechselte beim Gruße einige Worte mit dem Richter
Josef Pnpv, der sie mit seinen Blicken bis in die Nähe der Synagoge verfolgte;
derselbe sagte später aus, er habe dem Mädchen mit einer gewissen Beklemmung
unwillkürlich nachgesehen und den Blick nicht von ihr wenden können, bis sie
verschwunden gewesen. Er war der letzte, der sie gesehen, obwohl uns der andern
Seite der Synagoge sechs bis acht Tagelöhner beschäftigt waren, bei denen das
Mädchen auf dem Nachhausewege hätte vorüberkommen und von denen es hätte
gesehen werden müssen.

Als das Mädchen nicht nach Hanse kam, ging die Mutter gegen Abend
aus, das Kind zu suchen; aber vergebens. Am vierten Tage zeigte sie das Ver¬
schwinden ihrer Tochter beim Bezirksstuhlrichtcr in Alse-Data an und lief seit
dieser Zeit von einer Behörde zur ander", um etwas über deu Verbleib ihrer
Tochter zu erfahren.

Als sie Anfang Mai wieder einmal vom Stuhlrichter kam. redete sie der
Schächter*) Schwarz treuherzig an, fragte sie über ihre Tochter aus und tröstete
sie mit den Worten: "Gramm Sie sich nicht allzusehr, Frau, das Mädchen wird
schon wieder zum Vorschein kommen. Das unwissende, abergläubische Volk"
^ und mit diesen Worten trat er ganz nahe an sie heran - "pflegt hin und
wieder das abscheuliche Märchen zu erzählen, daß die Juden zu deu Oster-
seierwgeu das Blut von Christenmüdchcn brauchten. Das ist nun eine große
Albernheit lind blöde Lüge, man wird aber wahrscheinlich auch jetzt davon zu
sprechen ansaugen." Er ermahnte sie, dergleichen nicht zu glauben, erreichte
°ber gerade das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte: die Frau wurde
uüßtrauisch und erzählte dieses Zusammentreffen ihren Bekannten. Da kam
^ es war etwa Mitte Mai -- der sechsjährige Sohn des Tcmveldieners Scharf
unt seinen christlichen Gespielen in Streit, und als sie ihn schlecht behandelten,
drohte er ihnen: sie sollten sich in Acht nehmen, daß es ihnen nicht auch so
gehe, wie der Esther Solymosi, die sein Vater mit seinen Freunden im Tempel
geschlachtet habe. Die Kinder erzählten diese Drohung zu Hause, die Sache



*) Der jüdisch.rituelle Schlächter.

Ungarns, um die Mittagsstunde die bei ihr in: Dienste stehende vierzehnjährige
Esther Solymosi, die Tochter der in demselben Orte wohnende Witwe Stefan
Solymosi, ab, um einige Einkäufe zu besorgen. Der Kaufladen lag in einem
Häuserlomplex, der von dem eigentlichen Dorfe dnrch freies Feld getrennt war;
das letztere und der Weg nach jenem Häuserkvmplex kann von einem Fenster
der Synagoge ans übersehen werden, die am Ende des eigentlichen Dorfes auf
der Westseite des freien Feldes steht. Esther drängte bei dem Kaufmann Josef
Kvhlineyer, bei dem sie die Waaren, nnter andern anch Farbe, holte, zur Eile,
Päckte dieselben in ein weiß- und gelbgewürfeltes Tuch und kehrte eilends nach
dem Dorfe zurück. Beim Eintritte in das Dorf sprach sie noch mit ihrer
ältern Schwester Sophie und wechselte beim Gruße einige Worte mit dem Richter
Josef Pnpv, der sie mit seinen Blicken bis in die Nähe der Synagoge verfolgte;
derselbe sagte später aus, er habe dem Mädchen mit einer gewissen Beklemmung
unwillkürlich nachgesehen und den Blick nicht von ihr wenden können, bis sie
verschwunden gewesen. Er war der letzte, der sie gesehen, obwohl uns der andern
Seite der Synagoge sechs bis acht Tagelöhner beschäftigt waren, bei denen das
Mädchen auf dem Nachhausewege hätte vorüberkommen und von denen es hätte
gesehen werden müssen.

Als das Mädchen nicht nach Hanse kam, ging die Mutter gegen Abend
aus, das Kind zu suchen; aber vergebens. Am vierten Tage zeigte sie das Ver¬
schwinden ihrer Tochter beim Bezirksstuhlrichtcr in Alse-Data an und lief seit
dieser Zeit von einer Behörde zur ander», um etwas über deu Verbleib ihrer
Tochter zu erfahren.

Als sie Anfang Mai wieder einmal vom Stuhlrichter kam. redete sie der
Schächter*) Schwarz treuherzig an, fragte sie über ihre Tochter aus und tröstete
sie mit den Worten: „Gramm Sie sich nicht allzusehr, Frau, das Mädchen wird
schon wieder zum Vorschein kommen. Das unwissende, abergläubische Volk"
^ und mit diesen Worten trat er ganz nahe an sie heran - „pflegt hin und
wieder das abscheuliche Märchen zu erzählen, daß die Juden zu deu Oster-
seierwgeu das Blut von Christenmüdchcn brauchten. Das ist nun eine große
Albernheit lind blöde Lüge, man wird aber wahrscheinlich auch jetzt davon zu
sprechen ansaugen." Er ermahnte sie, dergleichen nicht zu glauben, erreichte
°ber gerade das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte: die Frau wurde
uüßtrauisch und erzählte dieses Zusammentreffen ihren Bekannten. Da kam
^ es war etwa Mitte Mai — der sechsjährige Sohn des Tcmveldieners Scharf
unt seinen christlichen Gespielen in Streit, und als sie ihn schlecht behandelten,
drohte er ihnen: sie sollten sich in Acht nehmen, daß es ihnen nicht auch so
gehe, wie der Esther Solymosi, die sein Vater mit seinen Freunden im Tempel
geschlachtet habe. Die Kinder erzählten diese Drohung zu Hause, die Sache



*) Der jüdisch.rituelle Schlächter.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0163" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194141"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_556" prev="#ID_555"> Ungarns, um die Mittagsstunde die bei ihr in: Dienste stehende vierzehnjährige<lb/>
Esther Solymosi, die Tochter der in demselben Orte wohnende Witwe Stefan<lb/>
Solymosi, ab, um einige Einkäufe zu besorgen. Der Kaufladen lag in einem<lb/>
Häuserlomplex, der von dem eigentlichen Dorfe dnrch freies Feld getrennt war;<lb/>
das letztere und der Weg nach jenem Häuserkvmplex kann von einem Fenster<lb/>
der Synagoge ans übersehen werden, die am Ende des eigentlichen Dorfes auf<lb/>
der Westseite des freien Feldes steht. Esther drängte bei dem Kaufmann Josef<lb/>
Kvhlineyer, bei dem sie die Waaren, nnter andern anch Farbe, holte, zur Eile,<lb/>
Päckte dieselben in ein weiß- und gelbgewürfeltes Tuch und kehrte eilends nach<lb/>
dem Dorfe zurück. Beim Eintritte in das Dorf sprach sie noch mit ihrer<lb/>
ältern Schwester Sophie und wechselte beim Gruße einige Worte mit dem Richter<lb/>
Josef Pnpv, der sie mit seinen Blicken bis in die Nähe der Synagoge verfolgte;<lb/>
derselbe sagte später aus, er habe dem Mädchen mit einer gewissen Beklemmung<lb/>
unwillkürlich nachgesehen und den Blick nicht von ihr wenden können, bis sie<lb/>
verschwunden gewesen. Er war der letzte, der sie gesehen, obwohl uns der andern<lb/>
Seite der Synagoge sechs bis acht Tagelöhner beschäftigt waren, bei denen das<lb/>
Mädchen auf dem Nachhausewege hätte vorüberkommen und von denen es hätte<lb/>
gesehen werden müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_557"> Als das Mädchen nicht nach Hanse kam, ging die Mutter gegen Abend<lb/>
aus, das Kind zu suchen; aber vergebens. Am vierten Tage zeigte sie das Ver¬<lb/>
schwinden ihrer Tochter beim Bezirksstuhlrichtcr in Alse-Data an und lief seit<lb/>
dieser Zeit von einer Behörde zur ander», um etwas über deu Verbleib ihrer<lb/>
Tochter zu erfahren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_558" next="#ID_559"> Als sie Anfang Mai wieder einmal vom Stuhlrichter kam. redete sie der<lb/>
Schächter*) Schwarz treuherzig an, fragte sie über ihre Tochter aus und tröstete<lb/>
sie mit den Worten: &#x201E;Gramm Sie sich nicht allzusehr, Frau, das Mädchen wird<lb/>
schon wieder zum Vorschein kommen. Das unwissende, abergläubische Volk"<lb/>
^ und mit diesen Worten trat er ganz nahe an sie heran - &#x201E;pflegt hin und<lb/>
wieder das abscheuliche Märchen zu erzählen, daß die Juden zu deu Oster-<lb/>
seierwgeu das Blut von Christenmüdchcn brauchten. Das ist nun eine große<lb/>
Albernheit lind blöde Lüge, man wird aber wahrscheinlich auch jetzt davon zu<lb/>
sprechen ansaugen." Er ermahnte sie, dergleichen nicht zu glauben, erreichte<lb/>
°ber gerade das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte: die Frau wurde<lb/>
uüßtrauisch und erzählte dieses Zusammentreffen ihren Bekannten. Da kam<lb/>
^ es war etwa Mitte Mai &#x2014; der sechsjährige Sohn des Tcmveldieners Scharf<lb/>
unt seinen christlichen Gespielen in Streit, und als sie ihn schlecht behandelten,<lb/>
drohte er ihnen: sie sollten sich in Acht nehmen, daß es ihnen nicht auch so<lb/>
gehe, wie der Esther Solymosi, die sein Vater mit seinen Freunden im Tempel<lb/>
geschlachtet habe.  Die Kinder erzählten diese Drohung zu Hause, die Sache</p><lb/>
          <note xml:id="FID_13" place="foot"> *) Der jüdisch.rituelle Schlächter.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0163] Ungarns, um die Mittagsstunde die bei ihr in: Dienste stehende vierzehnjährige Esther Solymosi, die Tochter der in demselben Orte wohnende Witwe Stefan Solymosi, ab, um einige Einkäufe zu besorgen. Der Kaufladen lag in einem Häuserlomplex, der von dem eigentlichen Dorfe dnrch freies Feld getrennt war; das letztere und der Weg nach jenem Häuserkvmplex kann von einem Fenster der Synagoge ans übersehen werden, die am Ende des eigentlichen Dorfes auf der Westseite des freien Feldes steht. Esther drängte bei dem Kaufmann Josef Kvhlineyer, bei dem sie die Waaren, nnter andern anch Farbe, holte, zur Eile, Päckte dieselben in ein weiß- und gelbgewürfeltes Tuch und kehrte eilends nach dem Dorfe zurück. Beim Eintritte in das Dorf sprach sie noch mit ihrer ältern Schwester Sophie und wechselte beim Gruße einige Worte mit dem Richter Josef Pnpv, der sie mit seinen Blicken bis in die Nähe der Synagoge verfolgte; derselbe sagte später aus, er habe dem Mädchen mit einer gewissen Beklemmung unwillkürlich nachgesehen und den Blick nicht von ihr wenden können, bis sie verschwunden gewesen. Er war der letzte, der sie gesehen, obwohl uns der andern Seite der Synagoge sechs bis acht Tagelöhner beschäftigt waren, bei denen das Mädchen auf dem Nachhausewege hätte vorüberkommen und von denen es hätte gesehen werden müssen. Als das Mädchen nicht nach Hanse kam, ging die Mutter gegen Abend aus, das Kind zu suchen; aber vergebens. Am vierten Tage zeigte sie das Ver¬ schwinden ihrer Tochter beim Bezirksstuhlrichtcr in Alse-Data an und lief seit dieser Zeit von einer Behörde zur ander», um etwas über deu Verbleib ihrer Tochter zu erfahren. Als sie Anfang Mai wieder einmal vom Stuhlrichter kam. redete sie der Schächter*) Schwarz treuherzig an, fragte sie über ihre Tochter aus und tröstete sie mit den Worten: „Gramm Sie sich nicht allzusehr, Frau, das Mädchen wird schon wieder zum Vorschein kommen. Das unwissende, abergläubische Volk" ^ und mit diesen Worten trat er ganz nahe an sie heran - „pflegt hin und wieder das abscheuliche Märchen zu erzählen, daß die Juden zu deu Oster- seierwgeu das Blut von Christenmüdchcn brauchten. Das ist nun eine große Albernheit lind blöde Lüge, man wird aber wahrscheinlich auch jetzt davon zu sprechen ansaugen." Er ermahnte sie, dergleichen nicht zu glauben, erreichte °ber gerade das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte: die Frau wurde uüßtrauisch und erzählte dieses Zusammentreffen ihren Bekannten. Da kam ^ es war etwa Mitte Mai — der sechsjährige Sohn des Tcmveldieners Scharf unt seinen christlichen Gespielen in Streit, und als sie ihn schlecht behandelten, drohte er ihnen: sie sollten sich in Acht nehmen, daß es ihnen nicht auch so gehe, wie der Esther Solymosi, die sein Vater mit seinen Freunden im Tempel geschlachtet habe. Die Kinder erzählten diese Drohung zu Hause, die Sache *) Der jüdisch.rituelle Schlächter.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/163
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/163>, abgerufen am 17.06.2024.