Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Mädchen von Tisza - Gszlar.

wurde ruchbar, und die Behörde beobachtete insgeheim die Familie Scharf. Als
wenige Tage darauf der Paudurenkvmmisfar am Haufe derselben vorbeistreifte,
hörte er Streit; er trat in den Hausflur und vernahm, wie derselbe Knabe
feiner Mutter, die ihn züchtigen wollte, zurief: "Wenn ihr mich wieder
schlägt, fo werde ich es erzählen, daß der Vater und die fremden Leute das
Ungarmädcheu geschlachtet haben." Die "fremden Leute" waren einige am 31. März
aus Galizien zugereiste Schächter, welche die Einwohner an der fremdartigen
Tracht sofort als polnische Juden erkannt hatten. Jetzt trat der Pnndnren-
konunissar vor und unterzog den aufs ünßerste bestürzten Scharf einem ersten
Verhör, auf Grund dessen er nicht nur die ganze Familie Scharf, fondern auch
den Schächter Salomon Schwarz und uoch einige andre verdächtige Juden ver¬
haftete und nach erstatteter Anzeige an den Stuhlrichter auf dessen Befehl am
nächsten Tage in das Gefängnis des königlichen Gerichtshofes ablieferte. Das
Ehepaar Scharf leugnete rundweg alles ab; aber der sechsjährige Sohn blieb
bei seiner Behauptung, daß sein Vater und die andern das Ungarmüdchen er¬
mordet hätten, und zwar am Sonnabend vor Ostern nach dem Gottesdienste, um
die Mittagszeit. Dagegen hatte der ältere Sohn des Tempeldieners, der sech¬
zehnjährige Moritz Scharf, bei mehreren eingehenden Verhören auf alle Fragen
nur die eine Antwort, daß er von allem absolut nichts wisse.

Der Gerichtspräsident von Kornis, welcher vermutete, daß der. junge
Mensch uur aus Furcht vor der Untersuchung und aus Rücksicht auf seine Eltern
und Glaubensgenossen das Geständnis verweigere, ließ denselben in die Wohnung
eines Gerichtsschreibers bringen, wo er die beste Behandlung erfuhr und infolge
dessen das entgegengebrachte Vertrauen erwiederte; aber leidenschaftlich lehnte er
jede Mitwisfenschaft vou dein Verbrechen ab, nach den Verhören war er immer
ernst und melancholisch. Endlich schmolz die harte Rinde, die sein Gewissen
band. In einer Nacht stand er auf und eröffnete dem herbeigerufenen Beamten,
daß ihn ein schweres Geheimnis drücke, nnter dessen Last er erliege, man möge
den Richter rufen. Der Untersuchungsrichter von Barry wurde aus dem Bette
herbeigeholt und nahm folgendes Geständnis zu Protokoll.

Am 1. April, Sonnabend vor dem jüdischen Osterfest, blieben nach dem
Gottesdienste gegen 1 Uhr, nachdem die Gemeinde schon die Synagoge verlassen
hatte, in derselben sein Vater, der Tempeldiener Josef Scharf, der Schächter
Salomon Schwarz, einige Juden ans Tisza-Eszlar, mehrere fremde Schächter
und ein aus Galizien zugereister jüdischer Bettler zurück; deu Moritz Scharf
und seinen kleinen Bruder wies der Vater hinaus, die Brüder blieben aber in
eiuer Ecke steheu, wo sie der Vater uicht sehen konnte. Der Vater ging nun
ebenfalls mit dem galizischen Bettler aus der Synagoge nach seiner Wohnung,
von der aus er deu Weg nach dem zu Tisza-Eszlar gehörigen Hüuserkomplcx
übersehen konnte, nach welchem Esther Svlymvsi geschickt worden war. Als er
das Mädchen mit einem in ein gelb und weiß gestreiftes Tuch gehüllten Bündel


Das Mädchen von Tisza - Gszlar.

wurde ruchbar, und die Behörde beobachtete insgeheim die Familie Scharf. Als
wenige Tage darauf der Paudurenkvmmisfar am Haufe derselben vorbeistreifte,
hörte er Streit; er trat in den Hausflur und vernahm, wie derselbe Knabe
feiner Mutter, die ihn züchtigen wollte, zurief: „Wenn ihr mich wieder
schlägt, fo werde ich es erzählen, daß der Vater und die fremden Leute das
Ungarmädcheu geschlachtet haben." Die „fremden Leute" waren einige am 31. März
aus Galizien zugereiste Schächter, welche die Einwohner an der fremdartigen
Tracht sofort als polnische Juden erkannt hatten. Jetzt trat der Pnndnren-
konunissar vor und unterzog den aufs ünßerste bestürzten Scharf einem ersten
Verhör, auf Grund dessen er nicht nur die ganze Familie Scharf, fondern auch
den Schächter Salomon Schwarz und uoch einige andre verdächtige Juden ver¬
haftete und nach erstatteter Anzeige an den Stuhlrichter auf dessen Befehl am
nächsten Tage in das Gefängnis des königlichen Gerichtshofes ablieferte. Das
Ehepaar Scharf leugnete rundweg alles ab; aber der sechsjährige Sohn blieb
bei seiner Behauptung, daß sein Vater und die andern das Ungarmüdchen er¬
mordet hätten, und zwar am Sonnabend vor Ostern nach dem Gottesdienste, um
die Mittagszeit. Dagegen hatte der ältere Sohn des Tempeldieners, der sech¬
zehnjährige Moritz Scharf, bei mehreren eingehenden Verhören auf alle Fragen
nur die eine Antwort, daß er von allem absolut nichts wisse.

Der Gerichtspräsident von Kornis, welcher vermutete, daß der. junge
Mensch uur aus Furcht vor der Untersuchung und aus Rücksicht auf seine Eltern
und Glaubensgenossen das Geständnis verweigere, ließ denselben in die Wohnung
eines Gerichtsschreibers bringen, wo er die beste Behandlung erfuhr und infolge
dessen das entgegengebrachte Vertrauen erwiederte; aber leidenschaftlich lehnte er
jede Mitwisfenschaft vou dein Verbrechen ab, nach den Verhören war er immer
ernst und melancholisch. Endlich schmolz die harte Rinde, die sein Gewissen
band. In einer Nacht stand er auf und eröffnete dem herbeigerufenen Beamten,
daß ihn ein schweres Geheimnis drücke, nnter dessen Last er erliege, man möge
den Richter rufen. Der Untersuchungsrichter von Barry wurde aus dem Bette
herbeigeholt und nahm folgendes Geständnis zu Protokoll.

Am 1. April, Sonnabend vor dem jüdischen Osterfest, blieben nach dem
Gottesdienste gegen 1 Uhr, nachdem die Gemeinde schon die Synagoge verlassen
hatte, in derselben sein Vater, der Tempeldiener Josef Scharf, der Schächter
Salomon Schwarz, einige Juden ans Tisza-Eszlar, mehrere fremde Schächter
und ein aus Galizien zugereister jüdischer Bettler zurück; deu Moritz Scharf
und seinen kleinen Bruder wies der Vater hinaus, die Brüder blieben aber in
eiuer Ecke steheu, wo sie der Vater uicht sehen konnte. Der Vater ging nun
ebenfalls mit dem galizischen Bettler aus der Synagoge nach seiner Wohnung,
von der aus er deu Weg nach dem zu Tisza-Eszlar gehörigen Hüuserkomplcx
übersehen konnte, nach welchem Esther Svlymvsi geschickt worden war. Als er
das Mädchen mit einem in ein gelb und weiß gestreiftes Tuch gehüllten Bündel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194142"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Mädchen von Tisza - Gszlar.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_559" prev="#ID_558"> wurde ruchbar, und die Behörde beobachtete insgeheim die Familie Scharf. Als<lb/>
wenige Tage darauf der Paudurenkvmmisfar am Haufe derselben vorbeistreifte,<lb/>
hörte er Streit; er trat in den Hausflur und vernahm, wie derselbe Knabe<lb/>
feiner Mutter, die ihn züchtigen wollte, zurief: &#x201E;Wenn ihr mich wieder<lb/>
schlägt, fo werde ich es erzählen, daß der Vater und die fremden Leute das<lb/>
Ungarmädcheu geschlachtet haben." Die &#x201E;fremden Leute" waren einige am 31. März<lb/>
aus Galizien zugereiste Schächter, welche die Einwohner an der fremdartigen<lb/>
Tracht sofort als polnische Juden erkannt hatten. Jetzt trat der Pnndnren-<lb/>
konunissar vor und unterzog den aufs ünßerste bestürzten Scharf einem ersten<lb/>
Verhör, auf Grund dessen er nicht nur die ganze Familie Scharf, fondern auch<lb/>
den Schächter Salomon Schwarz und uoch einige andre verdächtige Juden ver¬<lb/>
haftete und nach erstatteter Anzeige an den Stuhlrichter auf dessen Befehl am<lb/>
nächsten Tage in das Gefängnis des königlichen Gerichtshofes ablieferte. Das<lb/>
Ehepaar Scharf leugnete rundweg alles ab; aber der sechsjährige Sohn blieb<lb/>
bei seiner Behauptung, daß sein Vater und die andern das Ungarmüdchen er¬<lb/>
mordet hätten, und zwar am Sonnabend vor Ostern nach dem Gottesdienste, um<lb/>
die Mittagszeit. Dagegen hatte der ältere Sohn des Tempeldieners, der sech¬<lb/>
zehnjährige Moritz Scharf, bei mehreren eingehenden Verhören auf alle Fragen<lb/>
nur die eine Antwort, daß er von allem absolut nichts wisse.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_560"> Der Gerichtspräsident von Kornis, welcher vermutete, daß der. junge<lb/>
Mensch uur aus Furcht vor der Untersuchung und aus Rücksicht auf seine Eltern<lb/>
und Glaubensgenossen das Geständnis verweigere, ließ denselben in die Wohnung<lb/>
eines Gerichtsschreibers bringen, wo er die beste Behandlung erfuhr und infolge<lb/>
dessen das entgegengebrachte Vertrauen erwiederte; aber leidenschaftlich lehnte er<lb/>
jede Mitwisfenschaft vou dein Verbrechen ab, nach den Verhören war er immer<lb/>
ernst und melancholisch. Endlich schmolz die harte Rinde, die sein Gewissen<lb/>
band. In einer Nacht stand er auf und eröffnete dem herbeigerufenen Beamten,<lb/>
daß ihn ein schweres Geheimnis drücke, nnter dessen Last er erliege, man möge<lb/>
den Richter rufen. Der Untersuchungsrichter von Barry wurde aus dem Bette<lb/>
herbeigeholt und nahm folgendes Geständnis zu Protokoll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_561" next="#ID_562"> Am 1. April, Sonnabend vor dem jüdischen Osterfest, blieben nach dem<lb/>
Gottesdienste gegen 1 Uhr, nachdem die Gemeinde schon die Synagoge verlassen<lb/>
hatte, in derselben sein Vater, der Tempeldiener Josef Scharf, der Schächter<lb/>
Salomon Schwarz, einige Juden ans Tisza-Eszlar, mehrere fremde Schächter<lb/>
und ein aus Galizien zugereister jüdischer Bettler zurück; deu Moritz Scharf<lb/>
und seinen kleinen Bruder wies der Vater hinaus, die Brüder blieben aber in<lb/>
eiuer Ecke steheu, wo sie der Vater uicht sehen konnte. Der Vater ging nun<lb/>
ebenfalls mit dem galizischen Bettler aus der Synagoge nach seiner Wohnung,<lb/>
von der aus er deu Weg nach dem zu Tisza-Eszlar gehörigen Hüuserkomplcx<lb/>
übersehen konnte, nach welchem Esther Svlymvsi geschickt worden war. Als er<lb/>
das Mädchen mit einem in ein gelb und weiß gestreiftes Tuch gehüllten Bündel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0164] Das Mädchen von Tisza - Gszlar. wurde ruchbar, und die Behörde beobachtete insgeheim die Familie Scharf. Als wenige Tage darauf der Paudurenkvmmisfar am Haufe derselben vorbeistreifte, hörte er Streit; er trat in den Hausflur und vernahm, wie derselbe Knabe feiner Mutter, die ihn züchtigen wollte, zurief: „Wenn ihr mich wieder schlägt, fo werde ich es erzählen, daß der Vater und die fremden Leute das Ungarmädcheu geschlachtet haben." Die „fremden Leute" waren einige am 31. März aus Galizien zugereiste Schächter, welche die Einwohner an der fremdartigen Tracht sofort als polnische Juden erkannt hatten. Jetzt trat der Pnndnren- konunissar vor und unterzog den aufs ünßerste bestürzten Scharf einem ersten Verhör, auf Grund dessen er nicht nur die ganze Familie Scharf, fondern auch den Schächter Salomon Schwarz und uoch einige andre verdächtige Juden ver¬ haftete und nach erstatteter Anzeige an den Stuhlrichter auf dessen Befehl am nächsten Tage in das Gefängnis des königlichen Gerichtshofes ablieferte. Das Ehepaar Scharf leugnete rundweg alles ab; aber der sechsjährige Sohn blieb bei seiner Behauptung, daß sein Vater und die andern das Ungarmüdchen er¬ mordet hätten, und zwar am Sonnabend vor Ostern nach dem Gottesdienste, um die Mittagszeit. Dagegen hatte der ältere Sohn des Tempeldieners, der sech¬ zehnjährige Moritz Scharf, bei mehreren eingehenden Verhören auf alle Fragen nur die eine Antwort, daß er von allem absolut nichts wisse. Der Gerichtspräsident von Kornis, welcher vermutete, daß der. junge Mensch uur aus Furcht vor der Untersuchung und aus Rücksicht auf seine Eltern und Glaubensgenossen das Geständnis verweigere, ließ denselben in die Wohnung eines Gerichtsschreibers bringen, wo er die beste Behandlung erfuhr und infolge dessen das entgegengebrachte Vertrauen erwiederte; aber leidenschaftlich lehnte er jede Mitwisfenschaft vou dein Verbrechen ab, nach den Verhören war er immer ernst und melancholisch. Endlich schmolz die harte Rinde, die sein Gewissen band. In einer Nacht stand er auf und eröffnete dem herbeigerufenen Beamten, daß ihn ein schweres Geheimnis drücke, nnter dessen Last er erliege, man möge den Richter rufen. Der Untersuchungsrichter von Barry wurde aus dem Bette herbeigeholt und nahm folgendes Geständnis zu Protokoll. Am 1. April, Sonnabend vor dem jüdischen Osterfest, blieben nach dem Gottesdienste gegen 1 Uhr, nachdem die Gemeinde schon die Synagoge verlassen hatte, in derselben sein Vater, der Tempeldiener Josef Scharf, der Schächter Salomon Schwarz, einige Juden ans Tisza-Eszlar, mehrere fremde Schächter und ein aus Galizien zugereister jüdischer Bettler zurück; deu Moritz Scharf und seinen kleinen Bruder wies der Vater hinaus, die Brüder blieben aber in eiuer Ecke steheu, wo sie der Vater uicht sehen konnte. Der Vater ging nun ebenfalls mit dem galizischen Bettler aus der Synagoge nach seiner Wohnung, von der aus er deu Weg nach dem zu Tisza-Eszlar gehörigen Hüuserkomplcx übersehen konnte, nach welchem Esther Svlymvsi geschickt worden war. Als er das Mädchen mit einem in ein gelb und weiß gestreiftes Tuch gehüllten Bündel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/164
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/164>, abgerufen am 17.06.2024.