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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Line neue Ergänzung der inilonischen Venus.

so sehr mehren, mit gleichem Anteil auch zu ihren alten Lieblingen zurück, und
umso fleißiger, wenn diese Lieblinge für die Forschung noch ungelöste Rätsel
bieten. Es ist bezeichnend, daß in demselben Augenblicke, wo die Kunde kommt,
daß Schayer, der Schöpfer des Verliuer Goethedenkmals, seine Wiederherstellung
des olympischen Hermes vollendet habe, noch ein neuer Versuch auftaucht, die
milonische Venus zu ergänzen; der Hermes ist für uns drei Jahre, die Venus
bereits zweiundsechzig Jahre alt.

C. Hasse, Professor der Anatomie an der Breslauer Universität, hat soeben
eine zum Teil höchst opulent ausgestattete Schrift veröffentlicht,*) in der er den
Vorschlag einer neuen Restauration der milonischeu Venus vorlegt. Die Schrift
ist mit acht Tafeln in Quart geschmückt, von denen vier, in vorzüglichen Licht¬
brücken ausgeführt, die Vorder-, die Ruck- und die linke Seitenansicht der Statue,
eine Aufnahme des im Louvre bei der Statue selbst aufbewahrten Armfragmentes
und drei verschiedene Aufnahmen des eben dort befindlichen Handfragmentes
zeigen; mit jeder dieser Lichtdrncktafeln korrespondirt eine Tafel mit litho-
graphirten Umrißzeichnnngen, welche die betreffende Ansicht in der Wiederher¬
stellung zeigt. Überdies hat der Verfasser vou einem Breslauer Bildhauer,
Lade, nach seinen Angaben die Statue in Gyps in halber Lebensgröße restau-
riren lassen; Abgüsse sind von dem Genannten zu beziehen.

Der Fall, daß die Anatomie in archäologischen Fragen ihr Votum abgiebt,
steht nicht vereinzelt da. Ihre Behandlungsart sticht natürlich von der der
Archäologie etwas ab. Der gerechte und vollkommene Archäolog würde über
ein erhaltenes Werk der antiken Kunst keine neue Hypothese aufzustellen wagen,
ohne alle bisher aufgestellten Hypothesen -- auch die thörichtsten -- nochmals
die Revue Passiren zu lassen und gründlichst deren Haltlosigkeit darzuthun.
Anders der Anatom. Die Herren Mediziner sind als Freunde der Kürze be¬
kannt. Man braucht nur ein kritisches Journal aufzuschlagen: die längsten
und umständlichsten Bücheranzeigen schreiben da stets die Philologen, die kürzesten
und präzisesten die Mediziner. An dieser löblichen Gewohnheit seiner Wissen¬
schaft hält der Verfasser mich im vorliegenden Falle bei seiner Gastrolle ans
archäologischen Gebiete fest und legt sich den gegenwärtigen Stand der Frage
über die milonische Venus etwa in folgender Weise zurecht.

Die Annahme, daß wir in der Statue einen Teil einer Gruppe erhalten
haben, darf als abgethan gelten; sie findet in den Fnndberichten nicht die ge-



*) Die Venus von Milo. Eine Untersuchung auf dem Gebiete der Plastik und ein
Versuch zur Wiederherstellung der Statue von C. Hasse. Mit 4 Lichtdruck- und 4 litho¬
graphischen Tafeln. Jena, Gustav Fischer, 1882. -- Die Beschränkung "zum Teil" ist leider
der typographischen Ausstattung wegen nötig, die zu den schönen Tafeln sehr wenig stimmt.
Der Druck ist mit einer abgenutzten, klexigen Schrift hergestellt. In Frankreich verwendet
man zu derartigen Publikationen jederzeit neue, noch völlig ungebrauchte Letter" -- und
so gehört sich's.
Line neue Ergänzung der inilonischen Venus.

so sehr mehren, mit gleichem Anteil auch zu ihren alten Lieblingen zurück, und
umso fleißiger, wenn diese Lieblinge für die Forschung noch ungelöste Rätsel
bieten. Es ist bezeichnend, daß in demselben Augenblicke, wo die Kunde kommt,
daß Schayer, der Schöpfer des Verliuer Goethedenkmals, seine Wiederherstellung
des olympischen Hermes vollendet habe, noch ein neuer Versuch auftaucht, die
milonische Venus zu ergänzen; der Hermes ist für uns drei Jahre, die Venus
bereits zweiundsechzig Jahre alt.

C. Hasse, Professor der Anatomie an der Breslauer Universität, hat soeben
eine zum Teil höchst opulent ausgestattete Schrift veröffentlicht,*) in der er den
Vorschlag einer neuen Restauration der milonischeu Venus vorlegt. Die Schrift
ist mit acht Tafeln in Quart geschmückt, von denen vier, in vorzüglichen Licht¬
brücken ausgeführt, die Vorder-, die Ruck- und die linke Seitenansicht der Statue,
eine Aufnahme des im Louvre bei der Statue selbst aufbewahrten Armfragmentes
und drei verschiedene Aufnahmen des eben dort befindlichen Handfragmentes
zeigen; mit jeder dieser Lichtdrncktafeln korrespondirt eine Tafel mit litho-
graphirten Umrißzeichnnngen, welche die betreffende Ansicht in der Wiederher¬
stellung zeigt. Überdies hat der Verfasser vou einem Breslauer Bildhauer,
Lade, nach seinen Angaben die Statue in Gyps in halber Lebensgröße restau-
riren lassen; Abgüsse sind von dem Genannten zu beziehen.

Der Fall, daß die Anatomie in archäologischen Fragen ihr Votum abgiebt,
steht nicht vereinzelt da. Ihre Behandlungsart sticht natürlich von der der
Archäologie etwas ab. Der gerechte und vollkommene Archäolog würde über
ein erhaltenes Werk der antiken Kunst keine neue Hypothese aufzustellen wagen,
ohne alle bisher aufgestellten Hypothesen — auch die thörichtsten — nochmals
die Revue Passiren zu lassen und gründlichst deren Haltlosigkeit darzuthun.
Anders der Anatom. Die Herren Mediziner sind als Freunde der Kürze be¬
kannt. Man braucht nur ein kritisches Journal aufzuschlagen: die längsten
und umständlichsten Bücheranzeigen schreiben da stets die Philologen, die kürzesten
und präzisesten die Mediziner. An dieser löblichen Gewohnheit seiner Wissen¬
schaft hält der Verfasser mich im vorliegenden Falle bei seiner Gastrolle ans
archäologischen Gebiete fest und legt sich den gegenwärtigen Stand der Frage
über die milonische Venus etwa in folgender Weise zurecht.

Die Annahme, daß wir in der Statue einen Teil einer Gruppe erhalten
haben, darf als abgethan gelten; sie findet in den Fnndberichten nicht die ge-



*) Die Venus von Milo. Eine Untersuchung auf dem Gebiete der Plastik und ein
Versuch zur Wiederherstellung der Statue von C. Hasse. Mit 4 Lichtdruck- und 4 litho¬
graphischen Tafeln. Jena, Gustav Fischer, 1882. — Die Beschränkung „zum Teil" ist leider
der typographischen Ausstattung wegen nötig, die zu den schönen Tafeln sehr wenig stimmt.
Der Druck ist mit einer abgenutzten, klexigen Schrift hergestellt. In Frankreich verwendet
man zu derartigen Publikationen jederzeit neue, noch völlig ungebrauchte Letter» — und
so gehört sich's.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/180>, abgerufen am 17.06.2024.