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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Eine neue Ergänzung der milonischen Venus.

Umstand, sowie die Richtung der Bruchflüche weist deutlich auf eine Beugelinie
des Armes schräg über den Nabel gegen die linke Hüfte und die dort liegenden
vorgebauschten und ans dem vorgebogenen linken Oberschenkel ruhenden Gewand¬
falten hin. Die rechte Hand hat unzweifelhaft an diese Gewandfalten gegriffen,
was mit dem einen Fundbericht genau übereinstimmt.

Überaus fein beobachtet ist die Äußerung Hasses über die Halshaltung.
Die Haltung des Kopfes, sagt er, wird dnrch die des Halses in eigner Weise
beeinflußt. Dieser, leicht uach vorn gebogen, zeigt dieselbe Drehung nach links
wie der Kopf mit realistisch ausgeprägten Hautfalten an der Seite, weicht aber
dabei nach rechts ab und ruft dadurch den Eindruck hervor, als wolle der Kopf
in mäßigem Grade einer von links herkommenden Gewalt ausweichen oder ent¬
gegenwirken. Über das gewellte und zurückgestrichene Haar geht eine tiefe, breite
Furche, ein Beweis, daß die Statue ursprünglich, ebenso wie Ohrringe und Arm¬
band, auch ein metallnes Diadem getragen hat.

Der Rumpf ist über der Hüfte leicht nach rechts gebogen und dabei im obern
Körperteil nach links gedreht -- eine vollkommene natürliche Haltung, wenn der
nach links abwärts greifende rechte Arm das über die linke Hüfte fallende Ge¬
wand erfassen soll. Die Biegung zeigt sich anatomisch vollkommen richtig in
den Conturen, in der Rückenfurche und in den Furchen des Bauches. Die rechte
Schulternackenlinie fällt in leichtem Fluß nach außen ab, die rechte Schlüssel¬
beinerhebung hat ihre gewöhnliche horizontale Stellung, und somit steht auch
das rechte Schulterblatt unbewegt. Anders die linke Partie. Dem? trotz des
kurz abgebrochenen linken Armes kann auch über die ursprüngliche Beschaffen¬
heit dieser Seite kein Zweifel walten. Aus der ganzen Stellung des Schlüssel¬
beines und des Schulterblattes und ans der Verkürzung der schräg abfallenden
Nackenlinie geht hervor, daß der linke Arm leicht über die Horizontale gehoben
gewesen sein muß, aber nicht, wie in den bisherigen Ergänzungen oder wie bei
der Venus von Capua, leicht gesenkt. Im letztern Falle müßte die Schulter
flacher, das Schlüsselbein selbst bei Überneignng des Rumpfes nach rechts weniger
gehoben sein, und die vordere Schulterfurche müßte eine andre Richtung be¬
kommen. Auch die vordere Begrenzung der Achselhöhle, der freie Rand des
großen Brustmuskels spricht für eine leichte Erhebung. Aber nicht nnr die Er¬
hebung, auch die Richtung des linken Oberarmes läßt sich feststellen. Die Bruch¬
fläche ist höchst unbedeutend nach vorn gerichtet, die Schulter um ein geringes
nach vorn gedreht; daraus folgt, wenn es nicht schon aus der geringen Tiefe
der vordern Schulterfurche hervorginge, daß der erhobene Vorderarm nur so
wenig nach vorn gebracht gewesen sein kann, daß der Ellbogen allerhöchstens
in der Querebene der Wangenmitte lag.

Diese Haltung mit einem stark nach innen gebogenen Unterarm verträgt
sich nun aber schlechterdings nicht mit der Annahme, daß die Venus vou Milo
triumphirend einen Apfel in die Höhe gehoben habe. Ganz abgesehen von der


Eine neue Ergänzung der milonischen Venus.

Umstand, sowie die Richtung der Bruchflüche weist deutlich auf eine Beugelinie
des Armes schräg über den Nabel gegen die linke Hüfte und die dort liegenden
vorgebauschten und ans dem vorgebogenen linken Oberschenkel ruhenden Gewand¬
falten hin. Die rechte Hand hat unzweifelhaft an diese Gewandfalten gegriffen,
was mit dem einen Fundbericht genau übereinstimmt.

Überaus fein beobachtet ist die Äußerung Hasses über die Halshaltung.
Die Haltung des Kopfes, sagt er, wird dnrch die des Halses in eigner Weise
beeinflußt. Dieser, leicht uach vorn gebogen, zeigt dieselbe Drehung nach links
wie der Kopf mit realistisch ausgeprägten Hautfalten an der Seite, weicht aber
dabei nach rechts ab und ruft dadurch den Eindruck hervor, als wolle der Kopf
in mäßigem Grade einer von links herkommenden Gewalt ausweichen oder ent¬
gegenwirken. Über das gewellte und zurückgestrichene Haar geht eine tiefe, breite
Furche, ein Beweis, daß die Statue ursprünglich, ebenso wie Ohrringe und Arm¬
band, auch ein metallnes Diadem getragen hat.

Der Rumpf ist über der Hüfte leicht nach rechts gebogen und dabei im obern
Körperteil nach links gedreht — eine vollkommene natürliche Haltung, wenn der
nach links abwärts greifende rechte Arm das über die linke Hüfte fallende Ge¬
wand erfassen soll. Die Biegung zeigt sich anatomisch vollkommen richtig in
den Conturen, in der Rückenfurche und in den Furchen des Bauches. Die rechte
Schulternackenlinie fällt in leichtem Fluß nach außen ab, die rechte Schlüssel¬
beinerhebung hat ihre gewöhnliche horizontale Stellung, und somit steht auch
das rechte Schulterblatt unbewegt. Anders die linke Partie. Dem? trotz des
kurz abgebrochenen linken Armes kann auch über die ursprüngliche Beschaffen¬
heit dieser Seite kein Zweifel walten. Aus der ganzen Stellung des Schlüssel¬
beines und des Schulterblattes und ans der Verkürzung der schräg abfallenden
Nackenlinie geht hervor, daß der linke Arm leicht über die Horizontale gehoben
gewesen sein muß, aber nicht, wie in den bisherigen Ergänzungen oder wie bei
der Venus von Capua, leicht gesenkt. Im letztern Falle müßte die Schulter
flacher, das Schlüsselbein selbst bei Überneignng des Rumpfes nach rechts weniger
gehoben sein, und die vordere Schulterfurche müßte eine andre Richtung be¬
kommen. Auch die vordere Begrenzung der Achselhöhle, der freie Rand des
großen Brustmuskels spricht für eine leichte Erhebung. Aber nicht nnr die Er¬
hebung, auch die Richtung des linken Oberarmes läßt sich feststellen. Die Bruch¬
fläche ist höchst unbedeutend nach vorn gerichtet, die Schulter um ein geringes
nach vorn gedreht; daraus folgt, wenn es nicht schon aus der geringen Tiefe
der vordern Schulterfurche hervorginge, daß der erhobene Vorderarm nur so
wenig nach vorn gebracht gewesen sein kann, daß der Ellbogen allerhöchstens
in der Querebene der Wangenmitte lag.

Diese Haltung mit einem stark nach innen gebogenen Unterarm verträgt
sich nun aber schlechterdings nicht mit der Annahme, daß die Venus vou Milo
triumphirend einen Apfel in die Höhe gehoben habe. Ganz abgesehen von der


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[0183] Eine neue Ergänzung der milonischen Venus. Umstand, sowie die Richtung der Bruchflüche weist deutlich auf eine Beugelinie des Armes schräg über den Nabel gegen die linke Hüfte und die dort liegenden vorgebauschten und ans dem vorgebogenen linken Oberschenkel ruhenden Gewand¬ falten hin. Die rechte Hand hat unzweifelhaft an diese Gewandfalten gegriffen, was mit dem einen Fundbericht genau übereinstimmt. Überaus fein beobachtet ist die Äußerung Hasses über die Halshaltung. Die Haltung des Kopfes, sagt er, wird dnrch die des Halses in eigner Weise beeinflußt. Dieser, leicht uach vorn gebogen, zeigt dieselbe Drehung nach links wie der Kopf mit realistisch ausgeprägten Hautfalten an der Seite, weicht aber dabei nach rechts ab und ruft dadurch den Eindruck hervor, als wolle der Kopf in mäßigem Grade einer von links herkommenden Gewalt ausweichen oder ent¬ gegenwirken. Über das gewellte und zurückgestrichene Haar geht eine tiefe, breite Furche, ein Beweis, daß die Statue ursprünglich, ebenso wie Ohrringe und Arm¬ band, auch ein metallnes Diadem getragen hat. Der Rumpf ist über der Hüfte leicht nach rechts gebogen und dabei im obern Körperteil nach links gedreht — eine vollkommene natürliche Haltung, wenn der nach links abwärts greifende rechte Arm das über die linke Hüfte fallende Ge¬ wand erfassen soll. Die Biegung zeigt sich anatomisch vollkommen richtig in den Conturen, in der Rückenfurche und in den Furchen des Bauches. Die rechte Schulternackenlinie fällt in leichtem Fluß nach außen ab, die rechte Schlüssel¬ beinerhebung hat ihre gewöhnliche horizontale Stellung, und somit steht auch das rechte Schulterblatt unbewegt. Anders die linke Partie. Dem? trotz des kurz abgebrochenen linken Armes kann auch über die ursprüngliche Beschaffen¬ heit dieser Seite kein Zweifel walten. Aus der ganzen Stellung des Schlüssel¬ beines und des Schulterblattes und ans der Verkürzung der schräg abfallenden Nackenlinie geht hervor, daß der linke Arm leicht über die Horizontale gehoben gewesen sein muß, aber nicht, wie in den bisherigen Ergänzungen oder wie bei der Venus von Capua, leicht gesenkt. Im letztern Falle müßte die Schulter flacher, das Schlüsselbein selbst bei Überneignng des Rumpfes nach rechts weniger gehoben sein, und die vordere Schulterfurche müßte eine andre Richtung be¬ kommen. Auch die vordere Begrenzung der Achselhöhle, der freie Rand des großen Brustmuskels spricht für eine leichte Erhebung. Aber nicht nnr die Er¬ hebung, auch die Richtung des linken Oberarmes läßt sich feststellen. Die Bruch¬ fläche ist höchst unbedeutend nach vorn gerichtet, die Schulter um ein geringes nach vorn gedreht; daraus folgt, wenn es nicht schon aus der geringen Tiefe der vordern Schulterfurche hervorginge, daß der erhobene Vorderarm nur so wenig nach vorn gebracht gewesen sein kann, daß der Ellbogen allerhöchstens in der Querebene der Wangenmitte lag. Diese Haltung mit einem stark nach innen gebogenen Unterarm verträgt sich nun aber schlechterdings nicht mit der Annahme, daß die Venus vou Milo triumphirend einen Apfel in die Höhe gehoben habe. Ganz abgesehen von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/183>, abgerufen am 17.06.2024.