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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Eine neue Ergänzung der inilonischen Venus.

andern Fingerhaltung, die dann erwartet werden müßte, würde ein solcher Gestus
nicht allein eine Hebung des Oberarmes, sondern auch ein so starkes Hervor¬
ragen des Ellbogens über die Antlitzfläche bedingen, daß dadurch eine ganz
andre Plastik an Brust und Schulter, besonders eine größere Vertiefung der
vorderen Schulterfläche entstehen würde.

Faßt man alle Beobachtungen zusammen, so ist nur eine Situation für
die Statue denkbar: Venus ist im Begriff, sich zu entkleiden, um in die
Fluten zu steigen. Ihr Blick ist träumerisch und selbstvergessen in die Ferne
gerichtet. Mit der rechten Hand greift sie nach dem über die linke Hüfte herab¬
fallenden Gewand, welches, über die rechte Hüfte bereits gefallen, nur noch durch
das vorgeschobene linke Bein festgehalten wird, während sie mit dem erho¬
benen linken Arm das Haarband und das Diadem zu lösen und damit
das Haar vollends zu entfesseln sucht. Der rätselhafte Apfel in ihrer Linken
ist eben kein Apfel, sondern die marmorne Nachbildung eines bereits gefaßten,
zusammengeballten Teiles des Haarbandes. Die leichte Neigung des Kopfes
nach rechts unterstützt die Bewegung der Hand zum Abziehen des letzten Haltes
des bereits teilweise gefallenen Haares. Im nächsten Augenblick wird das ganze
Haar frei herabfließen, das Gewand wird fallen, und die Göttin wird in das
zu ihren Füßen wallende feuchte Element hinabsteigen.

Dies das Ergebnis, zu welchem Hasse durch das sorgfältigste anatomische
Studium der Statue gelangt ist. Zu dem Gedanken an das Diadem ist er dabei
allerdings durch einen Zufall geführt worden. Als er auf der Reise nach
Paris begriffen war, die er zum Teil mit zu dem Zwecke unternahm, um das
Original der milonischen Venus genau zu untersuchen, wurde seiue Aufmerk¬
samkeit in Brüssel bei einem Besuche der Antiquitütenabteilung des Museums
in der ?0res as Hai auf eine unscheinbare kleine Bronze gelenkt: eine Venus,
deren Oberkörper und Gewand ihn entfernt an die milonische Venus erinnerten;
der rechte Arm gegen die linke Hüfte herumgreifend hält das fallende Gewand,
der linke Arm ist über den Scheitel erhoben, die Hand gegen den Haarschopf
herabgebogen. Dies Vronzefigürchen ist für die Auffassung Hasses entscheidend
geworden. Leider fehlt in der sonst so reich ausgestatteten Schrift eine Ab¬
bildung dieser Bronze -- eine bedauerliche Lücke, um deretwillen jedoch den
Verfasser kein Vorwurf trifft. Wie er mitteilt, sind seine Bitten um Über¬
sendung der Vrouze zu näherem Studium von der Oberleitung der Brüsseler
Sammlung unbeantwortet gelassen worden.

Diese UnHöflichkeit der Brüsseler Museumsverwaltung ist freilich nicht das
einzige Unglück, welches der treffliche Anatom bei seinen Bemühungen, der
Archäologie zu Hilfe zu kommen, gehabt hat. Er ist n-und von seineu archäo¬
logischen Freunden nicht sonderlich gut beraten worden. Das Verzeichnis der
ihm empfohlenen Literatur über die milonische Venus ist sehr unvollständig:
man vermißt darin die Monographie von Veit Valentin "Die hohe Frau von


Eine neue Ergänzung der inilonischen Venus.

andern Fingerhaltung, die dann erwartet werden müßte, würde ein solcher Gestus
nicht allein eine Hebung des Oberarmes, sondern auch ein so starkes Hervor¬
ragen des Ellbogens über die Antlitzfläche bedingen, daß dadurch eine ganz
andre Plastik an Brust und Schulter, besonders eine größere Vertiefung der
vorderen Schulterfläche entstehen würde.

Faßt man alle Beobachtungen zusammen, so ist nur eine Situation für
die Statue denkbar: Venus ist im Begriff, sich zu entkleiden, um in die
Fluten zu steigen. Ihr Blick ist träumerisch und selbstvergessen in die Ferne
gerichtet. Mit der rechten Hand greift sie nach dem über die linke Hüfte herab¬
fallenden Gewand, welches, über die rechte Hüfte bereits gefallen, nur noch durch
das vorgeschobene linke Bein festgehalten wird, während sie mit dem erho¬
benen linken Arm das Haarband und das Diadem zu lösen und damit
das Haar vollends zu entfesseln sucht. Der rätselhafte Apfel in ihrer Linken
ist eben kein Apfel, sondern die marmorne Nachbildung eines bereits gefaßten,
zusammengeballten Teiles des Haarbandes. Die leichte Neigung des Kopfes
nach rechts unterstützt die Bewegung der Hand zum Abziehen des letzten Haltes
des bereits teilweise gefallenen Haares. Im nächsten Augenblick wird das ganze
Haar frei herabfließen, das Gewand wird fallen, und die Göttin wird in das
zu ihren Füßen wallende feuchte Element hinabsteigen.

Dies das Ergebnis, zu welchem Hasse durch das sorgfältigste anatomische
Studium der Statue gelangt ist. Zu dem Gedanken an das Diadem ist er dabei
allerdings durch einen Zufall geführt worden. Als er auf der Reise nach
Paris begriffen war, die er zum Teil mit zu dem Zwecke unternahm, um das
Original der milonischen Venus genau zu untersuchen, wurde seiue Aufmerk¬
samkeit in Brüssel bei einem Besuche der Antiquitütenabteilung des Museums
in der ?0res as Hai auf eine unscheinbare kleine Bronze gelenkt: eine Venus,
deren Oberkörper und Gewand ihn entfernt an die milonische Venus erinnerten;
der rechte Arm gegen die linke Hüfte herumgreifend hält das fallende Gewand,
der linke Arm ist über den Scheitel erhoben, die Hand gegen den Haarschopf
herabgebogen. Dies Vronzefigürchen ist für die Auffassung Hasses entscheidend
geworden. Leider fehlt in der sonst so reich ausgestatteten Schrift eine Ab¬
bildung dieser Bronze — eine bedauerliche Lücke, um deretwillen jedoch den
Verfasser kein Vorwurf trifft. Wie er mitteilt, sind seine Bitten um Über¬
sendung der Vrouze zu näherem Studium von der Oberleitung der Brüsseler
Sammlung unbeantwortet gelassen worden.

Diese UnHöflichkeit der Brüsseler Museumsverwaltung ist freilich nicht das
einzige Unglück, welches der treffliche Anatom bei seinen Bemühungen, der
Archäologie zu Hilfe zu kommen, gehabt hat. Er ist n-und von seineu archäo¬
logischen Freunden nicht sonderlich gut beraten worden. Das Verzeichnis der
ihm empfohlenen Literatur über die milonische Venus ist sehr unvollständig:
man vermißt darin die Monographie von Veit Valentin „Die hohe Frau von


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[0184] Eine neue Ergänzung der inilonischen Venus. andern Fingerhaltung, die dann erwartet werden müßte, würde ein solcher Gestus nicht allein eine Hebung des Oberarmes, sondern auch ein so starkes Hervor¬ ragen des Ellbogens über die Antlitzfläche bedingen, daß dadurch eine ganz andre Plastik an Brust und Schulter, besonders eine größere Vertiefung der vorderen Schulterfläche entstehen würde. Faßt man alle Beobachtungen zusammen, so ist nur eine Situation für die Statue denkbar: Venus ist im Begriff, sich zu entkleiden, um in die Fluten zu steigen. Ihr Blick ist träumerisch und selbstvergessen in die Ferne gerichtet. Mit der rechten Hand greift sie nach dem über die linke Hüfte herab¬ fallenden Gewand, welches, über die rechte Hüfte bereits gefallen, nur noch durch das vorgeschobene linke Bein festgehalten wird, während sie mit dem erho¬ benen linken Arm das Haarband und das Diadem zu lösen und damit das Haar vollends zu entfesseln sucht. Der rätselhafte Apfel in ihrer Linken ist eben kein Apfel, sondern die marmorne Nachbildung eines bereits gefaßten, zusammengeballten Teiles des Haarbandes. Die leichte Neigung des Kopfes nach rechts unterstützt die Bewegung der Hand zum Abziehen des letzten Haltes des bereits teilweise gefallenen Haares. Im nächsten Augenblick wird das ganze Haar frei herabfließen, das Gewand wird fallen, und die Göttin wird in das zu ihren Füßen wallende feuchte Element hinabsteigen. Dies das Ergebnis, zu welchem Hasse durch das sorgfältigste anatomische Studium der Statue gelangt ist. Zu dem Gedanken an das Diadem ist er dabei allerdings durch einen Zufall geführt worden. Als er auf der Reise nach Paris begriffen war, die er zum Teil mit zu dem Zwecke unternahm, um das Original der milonischen Venus genau zu untersuchen, wurde seiue Aufmerk¬ samkeit in Brüssel bei einem Besuche der Antiquitütenabteilung des Museums in der ?0res as Hai auf eine unscheinbare kleine Bronze gelenkt: eine Venus, deren Oberkörper und Gewand ihn entfernt an die milonische Venus erinnerten; der rechte Arm gegen die linke Hüfte herumgreifend hält das fallende Gewand, der linke Arm ist über den Scheitel erhoben, die Hand gegen den Haarschopf herabgebogen. Dies Vronzefigürchen ist für die Auffassung Hasses entscheidend geworden. Leider fehlt in der sonst so reich ausgestatteten Schrift eine Ab¬ bildung dieser Bronze — eine bedauerliche Lücke, um deretwillen jedoch den Verfasser kein Vorwurf trifft. Wie er mitteilt, sind seine Bitten um Über¬ sendung der Vrouze zu näherem Studium von der Oberleitung der Brüsseler Sammlung unbeantwortet gelassen worden. Diese UnHöflichkeit der Brüsseler Museumsverwaltung ist freilich nicht das einzige Unglück, welches der treffliche Anatom bei seinen Bemühungen, der Archäologie zu Hilfe zu kommen, gehabt hat. Er ist n-und von seineu archäo¬ logischen Freunden nicht sonderlich gut beraten worden. Das Verzeichnis der ihm empfohlenen Literatur über die milonische Venus ist sehr unvollständig: man vermißt darin die Monographie von Veit Valentin „Die hohe Frau von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/184>, abgerufen am 17.06.2024.