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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Line neue Ergänzung der milouischen Venus.

Milo" (Berlin. G. Reimer. 1872). man vermißt Müller-Wieselers "Denkmäler
der alten Kunst" und Overbecks "Geschichte der griechischen Plastik." Geradezu
unverantwortlich ist es aber, daß er nicht auf die verdienstvolle Publikation des
Freiherrn Göler von Ravensburg "Die Venus von Milo" (Heidelberg. C. Winter,
1879) rechtzeitig aufmerksam gemacht worden ist; dieselbe scheint ganz zuletzt.
als seine Studie bereits abgeschlossen war. durch einen Zufall in seine Hände
gekommen zu sein. Daß er diese Verspätung "sehr bedauert." glauben wir ihm
gern. Göler ist nicht zünftiger Archäolog (er hat z. B. auch über den Kölner
Dom, neuerdings auch über Rubens' Verhältnis zur Antike geschrieben), und
sein Buch über die milonische Venus mag den deutschen Archäologen etwas un¬
bequem gekommen sein, weil sie sich darin haben über Dinge belehren lassen
müssen, die sie seit Jahren, ja seit Jahrzehnten hätten wissen müssen, wenn sie
nicht bisweilen denselben Fehler begingen, den der deutsche Professor so gern
seineu französischen und englischen Kollegen vorwirft, sich nämlich nicht genügend
um die Leistungen der ausländischen Wissenschaft zu bekümmern. Abgesehen
davon, daß Göler. wie selbst Wieseler in der neuesten Bearbeitung seiner "Denk¬
mäler" zugesteht, die Literatur über die milonische Venus "am vollständigsten
angeführt und berücksichtigt hat," daß er Klarheit in die verworrene Fund¬
geschichte gebracht hat, hat er anch zum erstenmale eine Abbildung von der
bereits 1861 von Claudius Tarral ausgeführten Restauration der Statue ge¬
geben. Diese französische Restauration hat aber bereits vor zwanzig Jahren
dem deutschen Anatomen den größten Teil seiner Ergebnisse vorweggenommen.
Schon Tarral hat durch die genaueste anatomische Untersuchung nachgewiesen,
nicht nur daß das linke Oberarmstück und das Handfragment zur Statue ge¬
hören, sondern auch daß der linke Arm in derjenigen Stellung gehalten gewesen
sei, zu der uun auch Hasse durch seine Beobachtungen gelangt ist. Indessen
ist dies Unglück nicht so groß, im Gegenteil, es ist beinahe ein Glück zu nennen.
Gerade in dem Umstände, daß zwei anatomische Untersuchungen völlig unab¬
hängig voll einander zu demselben Ergebnis gelangt sind, liegt die beste Bürg¬
schaft für die Nichtigkeit desselben. "Durch zweier Zeugen Mund wird aller-
wärts die Wahrheit kund."

Der Hassesche Ergünzungsvorschlag, durch die Abbildungen bestens unter¬
stützt, hat unläugbar etwas höchst ansprechendes. Was uns besonders für den¬
selben einnimmt, ist die feine Beobachtung, die Hasse über die Kopf- und Hals-
bewegnng der Göttin ausspricht; sie ist so schlagend richtig, daß man sich ihr
gar nicht mehr entziehen kann, sobald man einmal ans sie aufmerksam gemacht
Worden ist. Jeder, der eine Frau sich kämmen gesehen hat, hat beobachten können,
wie sie den Kraftaufwand, der nötig ist, um den Kamm dnrch das lange Haar
M ziehen, in der Art zwischen den: Kopfe und der Hand verteilt, daß der Kopf
sich etwas uach rechts wendet, wenn die linke Hand kämmt, und umgekehrt.
Eine ähnliche Drehung des Kopfes, wenn auch schwächer und weniger auffällig,


Line neue Ergänzung der milouischen Venus.

Milo" (Berlin. G. Reimer. 1872). man vermißt Müller-Wieselers „Denkmäler
der alten Kunst" und Overbecks „Geschichte der griechischen Plastik." Geradezu
unverantwortlich ist es aber, daß er nicht auf die verdienstvolle Publikation des
Freiherrn Göler von Ravensburg „Die Venus von Milo" (Heidelberg. C. Winter,
1879) rechtzeitig aufmerksam gemacht worden ist; dieselbe scheint ganz zuletzt.
als seine Studie bereits abgeschlossen war. durch einen Zufall in seine Hände
gekommen zu sein. Daß er diese Verspätung „sehr bedauert." glauben wir ihm
gern. Göler ist nicht zünftiger Archäolog (er hat z. B. auch über den Kölner
Dom, neuerdings auch über Rubens' Verhältnis zur Antike geschrieben), und
sein Buch über die milonische Venus mag den deutschen Archäologen etwas un¬
bequem gekommen sein, weil sie sich darin haben über Dinge belehren lassen
müssen, die sie seit Jahren, ja seit Jahrzehnten hätten wissen müssen, wenn sie
nicht bisweilen denselben Fehler begingen, den der deutsche Professor so gern
seineu französischen und englischen Kollegen vorwirft, sich nämlich nicht genügend
um die Leistungen der ausländischen Wissenschaft zu bekümmern. Abgesehen
davon, daß Göler. wie selbst Wieseler in der neuesten Bearbeitung seiner „Denk¬
mäler" zugesteht, die Literatur über die milonische Venus „am vollständigsten
angeführt und berücksichtigt hat," daß er Klarheit in die verworrene Fund¬
geschichte gebracht hat, hat er anch zum erstenmale eine Abbildung von der
bereits 1861 von Claudius Tarral ausgeführten Restauration der Statue ge¬
geben. Diese französische Restauration hat aber bereits vor zwanzig Jahren
dem deutschen Anatomen den größten Teil seiner Ergebnisse vorweggenommen.
Schon Tarral hat durch die genaueste anatomische Untersuchung nachgewiesen,
nicht nur daß das linke Oberarmstück und das Handfragment zur Statue ge¬
hören, sondern auch daß der linke Arm in derjenigen Stellung gehalten gewesen
sei, zu der uun auch Hasse durch seine Beobachtungen gelangt ist. Indessen
ist dies Unglück nicht so groß, im Gegenteil, es ist beinahe ein Glück zu nennen.
Gerade in dem Umstände, daß zwei anatomische Untersuchungen völlig unab¬
hängig voll einander zu demselben Ergebnis gelangt sind, liegt die beste Bürg¬
schaft für die Nichtigkeit desselben. „Durch zweier Zeugen Mund wird aller-
wärts die Wahrheit kund."

Der Hassesche Ergünzungsvorschlag, durch die Abbildungen bestens unter¬
stützt, hat unläugbar etwas höchst ansprechendes. Was uns besonders für den¬
selben einnimmt, ist die feine Beobachtung, die Hasse über die Kopf- und Hals-
bewegnng der Göttin ausspricht; sie ist so schlagend richtig, daß man sich ihr
gar nicht mehr entziehen kann, sobald man einmal ans sie aufmerksam gemacht
Worden ist. Jeder, der eine Frau sich kämmen gesehen hat, hat beobachten können,
wie sie den Kraftaufwand, der nötig ist, um den Kamm dnrch das lange Haar
M ziehen, in der Art zwischen den: Kopfe und der Hand verteilt, daß der Kopf
sich etwas uach rechts wendet, wenn die linke Hand kämmt, und umgekehrt.
Eine ähnliche Drehung des Kopfes, wenn auch schwächer und weniger auffällig,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/185>, abgerufen am 17.06.2024.