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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Gine neue Ergänzung der inilonischen Venus.

findet aber auch dann statt, wenn eine Blume, eine Spange oder dergl. aus
dem Haar entfernt wird; immer schlagen dann der Kopf und die beschäftigte Hand
die entgegengesetzte Richtung ein. Ein leises Bedenken kommt uns nur wegen
der Fingerhaltung. Wir sind nicht sicher, ob nicht die meisten Frauen anch ein
Stück des Haarbandes lieber mit den Fingerspitzen als in der halb geschlossenen
Hand halten würden.

Funde die Hassesche Hypothese in archäologischen Kreisen Beifall, so würde
die milonische Venus in wahrhaft entzückender Weise sich unter die Bildwerke
einreihen, welche die Göttin bei den Vorbereitungen zum Bade zeigen. Treffend
bemerkt Overbeck in der neuesten Auflage seiner " Geschichte der griechischen
Plastik" bei Besprechung der eigentümlichen Gewandung unsrer Statue: "Zunächst
fragt man bei einer antiken Statue nach einer ans der Situation, in welcher
sie dargestellt ist, sich natürlich ergebenden Motivirung der Gewandung und ihrer
Anordnung. Denn die alten Künstler der guten Perioden haben es hiermit
keineswegs leicht genommen, und die Ansicht, man habe nach einer sachlichen
Motivirung der Entkleidung der Aphrodite überhaupt nicht zu fragen und könne
sich mit dem künstlerischen Motiv, d. h. damit beruhigen, die halbe Bekleidung
sei von dem Künstler nur dem Effekte zu liebe und nnr deswegen erfunden,
um durch den Kontrast des bekleideten Unterkörpers die Schönheit des nackten
Oberkörpers mit besonderem Nachdrucke hervorzuheben, diese Ansicht ist lediglich
auf modernes Kunstgefühl oder auf sehr zweifelhafte antike Analogien begründet."
Schade nnr, daß Overbeck sich in der dritten Auflage seiner "Plastik" auf das
Spiegelmotiv klemmt, das er in der zweiten Auflage so eifrig bekämpft hat.
Wenn er das Spiegelmotiv ernstlich an dein von ihm aufgestellten Grundsätze
gemessen hätte, so hätte er nicht behaupten können, daß aus diesem Motiv die
halbe Entkleidung der Göttin "sich weitaus am leichtesten und natürlichsten
erkläre." Wenn sie sich aus irgend einer Situation leicht und natürlich erklärt,
so ist es die der Vorbereitung zum Bade. Overbeck ist, wie es scheint, zu der
Annahme des Schildes besonders durch die Überzeugung gedrängt worden, daß
ein ursprünglich bei der Statue befindliches, später aus unerklärte Weise ver¬
schwundenes Basisfragment mit der Künstlerinschrift zur Statue gehört habe.
Dieses Basisstück aber, von dem eine getreue Abbildung aus dem Jahre 1821
erhalten ist, zeigt oben eine quadratische Öffnung, in welcher offenbar ein Gegen¬
stand eingezapft gewesen ist. Overbeck denkt nnn an einen kurzen Pfeiler, auf
welchen die Göttin den Schild aufgestützt habe, den sie also in diesem Falle nur
mit der linken Hand gehalten haben würde. Ungleich näher liegt es aber gewiß,
wenn dieses Basisstück, woran wir nicht zweifeln, zur Basis der Venus gehörte,
an das übliche urnenartige Badegefäß zu deuten, welches regelmüßig an der
Seite der zum Bade sich anschickenden Venus steht. Jedenfalls ist es ein weiteres
günstiges Zeichen für den Erklärungsversuch Hasses, daß zwei Dinge, die er gar nicht
berücksichtigt hat, das Gewandmotiv und jenes Basisstück, sobald man sie nach-


Gine neue Ergänzung der inilonischen Venus.

findet aber auch dann statt, wenn eine Blume, eine Spange oder dergl. aus
dem Haar entfernt wird; immer schlagen dann der Kopf und die beschäftigte Hand
die entgegengesetzte Richtung ein. Ein leises Bedenken kommt uns nur wegen
der Fingerhaltung. Wir sind nicht sicher, ob nicht die meisten Frauen anch ein
Stück des Haarbandes lieber mit den Fingerspitzen als in der halb geschlossenen
Hand halten würden.

Funde die Hassesche Hypothese in archäologischen Kreisen Beifall, so würde
die milonische Venus in wahrhaft entzückender Weise sich unter die Bildwerke
einreihen, welche die Göttin bei den Vorbereitungen zum Bade zeigen. Treffend
bemerkt Overbeck in der neuesten Auflage seiner „ Geschichte der griechischen
Plastik" bei Besprechung der eigentümlichen Gewandung unsrer Statue: „Zunächst
fragt man bei einer antiken Statue nach einer ans der Situation, in welcher
sie dargestellt ist, sich natürlich ergebenden Motivirung der Gewandung und ihrer
Anordnung. Denn die alten Künstler der guten Perioden haben es hiermit
keineswegs leicht genommen, und die Ansicht, man habe nach einer sachlichen
Motivirung der Entkleidung der Aphrodite überhaupt nicht zu fragen und könne
sich mit dem künstlerischen Motiv, d. h. damit beruhigen, die halbe Bekleidung
sei von dem Künstler nur dem Effekte zu liebe und nnr deswegen erfunden,
um durch den Kontrast des bekleideten Unterkörpers die Schönheit des nackten
Oberkörpers mit besonderem Nachdrucke hervorzuheben, diese Ansicht ist lediglich
auf modernes Kunstgefühl oder auf sehr zweifelhafte antike Analogien begründet."
Schade nnr, daß Overbeck sich in der dritten Auflage seiner „Plastik" auf das
Spiegelmotiv klemmt, das er in der zweiten Auflage so eifrig bekämpft hat.
Wenn er das Spiegelmotiv ernstlich an dein von ihm aufgestellten Grundsätze
gemessen hätte, so hätte er nicht behaupten können, daß aus diesem Motiv die
halbe Entkleidung der Göttin „sich weitaus am leichtesten und natürlichsten
erkläre." Wenn sie sich aus irgend einer Situation leicht und natürlich erklärt,
so ist es die der Vorbereitung zum Bade. Overbeck ist, wie es scheint, zu der
Annahme des Schildes besonders durch die Überzeugung gedrängt worden, daß
ein ursprünglich bei der Statue befindliches, später aus unerklärte Weise ver¬
schwundenes Basisfragment mit der Künstlerinschrift zur Statue gehört habe.
Dieses Basisstück aber, von dem eine getreue Abbildung aus dem Jahre 1821
erhalten ist, zeigt oben eine quadratische Öffnung, in welcher offenbar ein Gegen¬
stand eingezapft gewesen ist. Overbeck denkt nnn an einen kurzen Pfeiler, auf
welchen die Göttin den Schild aufgestützt habe, den sie also in diesem Falle nur
mit der linken Hand gehalten haben würde. Ungleich näher liegt es aber gewiß,
wenn dieses Basisstück, woran wir nicht zweifeln, zur Basis der Venus gehörte,
an das übliche urnenartige Badegefäß zu deuten, welches regelmüßig an der
Seite der zum Bade sich anschickenden Venus steht. Jedenfalls ist es ein weiteres
günstiges Zeichen für den Erklärungsversuch Hasses, daß zwei Dinge, die er gar nicht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/186>, abgerufen am 17.06.2024.