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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Choinas Larlylo.

Aiischauuugcu und Stimmungen in seiner Seele zu gelangen. Niemand, der
mich nnr einige Kapitel der "Französischen Revolution" gelesen und sich den
Eindruck von Carlyles Schilderung der Versailler Oktobertage, des Soldaten-
anfstandes iii Nancy, der königlichen Flucht nach Vcirennes und der "Nacht
der Sporen" hingegeben hat, kann an einem gewissen poetischen Darstellungs-
vermögen und dem poetischen Pathos in Carlyle zweifeln. Aber er war eine
von jenen germanischen Naturen, welche das heißeste Ringen und alle Kraft an
ihren Beruf und die denkbar beste Lösung ihrer Aufgaben setzen und dann doch
an einem gewissen Punkte Halt machen und das weitere Ringen für überflüssig
erklären. Er hatte viel latente Poesie, aber keinen Künstlertrieb in sich. Und
vor allein, seine Anschauung wuchs insoweit über die der alten Puritaner hinaus,
als ihm auch die Poesie für eine der erziehenden Mächte des Menschengeschlechts
galt, aber erhob sich niemals dazu, die Kunst als ein urewiges Bedürfnis und
als die unentbehrlichste Blüte alles über die Barbarei erhobenen Völkerlebens
zu ehren. "Alle poetischen Formen sind gegenwärtig in Mißkredit geraten, wie
sie es denn wohl verdient haben, und Wahrheit, nicht Dichtung, war und ist
die Aufgabe aller menschlichen Seelen, der höchsten sowohl wie der nie¬
drigsten."

In diesem Sinne hat sich Carlyle nicht nnr selbst von der poetische" Pro¬
duktion abgewandt und versucht "auf der Basis des Thatsächlichen und der auf¬
richtigen Wirklichkeit" (als ob die echte Dichtung eine andre hätte!) poetisch zu
sein, sondern hat anch die moderne Poesie bekämpft, freilich nicht ohne bei
Charles Dickens und andern sehr bemerkenswerte Ausnahmen zu machen. Wie
er sich einmal von seiner ersten Begeisterung für die deutsche Literatur und die
in ihr enthaltene" menschlichen Offenbarungen abgelöst hatte, gelangt er Schritt
für Schritt zu jener wunderbaren Mischung von Historiker, Poeten, Kritiker,
von Redner und Darsteller, die durch das innere Feuer vollständig zu einem
korinthischen Erz umgeschmolzen ward. Die "Französische Revolution," sein
Jugendbuch, bleibt in diesem Betracht wohl anch seine Meisterleistung. Niemals
war die Mischung der verschiedenen Elemente in Carlyle glücklicher, niemals
sein bis zur llnbarmherzigkeit individueller Stil kühner, glänzender, fortreißender,
niemals sein scharfer Blick für Menschen und Zustände durchdringender als in
diesem trotz aller Verbreitung nicht hinlänglich gewürdigten Buche. Die Studien,
bedanken- und Aiischanungsfülle desselben waren in der That so überwältigend,
daß sie Carlyle zu einer fortan unerschütterlichen Stellung in der englischen
Literatur verhalfen. Er begann das Buch, kurz nachdem er sich von seinein
schottischen Idyll losgerissen und im stärksten Gegensatz zu diesem Idyll in
London niedergelassen hatte. Der Entschluß dazu war ihm schwer geworden,
indeß schlug Carlyle wider Erwarten Wurzel selbst in "Babel." Er bezog in
der Cheyne Row des Stadtteils Chelsea jene Wohnung, die er dann volle sieben¬
undvierzig Jahre hindurch beibehielt. Er entschloß sich selbst, als seine like-


Choinas Larlylo.

Aiischauuugcu und Stimmungen in seiner Seele zu gelangen. Niemand, der
mich nnr einige Kapitel der „Französischen Revolution" gelesen und sich den
Eindruck von Carlyles Schilderung der Versailler Oktobertage, des Soldaten-
anfstandes iii Nancy, der königlichen Flucht nach Vcirennes und der „Nacht
der Sporen" hingegeben hat, kann an einem gewissen poetischen Darstellungs-
vermögen und dem poetischen Pathos in Carlyle zweifeln. Aber er war eine
von jenen germanischen Naturen, welche das heißeste Ringen und alle Kraft an
ihren Beruf und die denkbar beste Lösung ihrer Aufgaben setzen und dann doch
an einem gewissen Punkte Halt machen und das weitere Ringen für überflüssig
erklären. Er hatte viel latente Poesie, aber keinen Künstlertrieb in sich. Und
vor allein, seine Anschauung wuchs insoweit über die der alten Puritaner hinaus,
als ihm auch die Poesie für eine der erziehenden Mächte des Menschengeschlechts
galt, aber erhob sich niemals dazu, die Kunst als ein urewiges Bedürfnis und
als die unentbehrlichste Blüte alles über die Barbarei erhobenen Völkerlebens
zu ehren. „Alle poetischen Formen sind gegenwärtig in Mißkredit geraten, wie
sie es denn wohl verdient haben, und Wahrheit, nicht Dichtung, war und ist
die Aufgabe aller menschlichen Seelen, der höchsten sowohl wie der nie¬
drigsten."

In diesem Sinne hat sich Carlyle nicht nnr selbst von der poetische» Pro¬
duktion abgewandt und versucht „auf der Basis des Thatsächlichen und der auf¬
richtigen Wirklichkeit" (als ob die echte Dichtung eine andre hätte!) poetisch zu
sein, sondern hat anch die moderne Poesie bekämpft, freilich nicht ohne bei
Charles Dickens und andern sehr bemerkenswerte Ausnahmen zu machen. Wie
er sich einmal von seiner ersten Begeisterung für die deutsche Literatur und die
in ihr enthaltene» menschlichen Offenbarungen abgelöst hatte, gelangt er Schritt
für Schritt zu jener wunderbaren Mischung von Historiker, Poeten, Kritiker,
von Redner und Darsteller, die durch das innere Feuer vollständig zu einem
korinthischen Erz umgeschmolzen ward. Die „Französische Revolution," sein
Jugendbuch, bleibt in diesem Betracht wohl anch seine Meisterleistung. Niemals
war die Mischung der verschiedenen Elemente in Carlyle glücklicher, niemals
sein bis zur llnbarmherzigkeit individueller Stil kühner, glänzender, fortreißender,
niemals sein scharfer Blick für Menschen und Zustände durchdringender als in
diesem trotz aller Verbreitung nicht hinlänglich gewürdigten Buche. Die Studien,
bedanken- und Aiischanungsfülle desselben waren in der That so überwältigend,
daß sie Carlyle zu einer fortan unerschütterlichen Stellung in der englischen
Literatur verhalfen. Er begann das Buch, kurz nachdem er sich von seinein
schottischen Idyll losgerissen und im stärksten Gegensatz zu diesem Idyll in
London niedergelassen hatte. Der Entschluß dazu war ihm schwer geworden,
indeß schlug Carlyle wider Erwarten Wurzel selbst in „Babel." Er bezog in
der Cheyne Row des Stadtteils Chelsea jene Wohnung, die er dann volle sieben¬
undvierzig Jahre hindurch beibehielt. Er entschloß sich selbst, als seine like-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/26>, abgerufen am 26.05.2024.