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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Reform des englischen Parlaments.

gewöhnlich nicht in der rauhen Wirklichkeit, sondern nur in des Ideales Reich.
Eine große Menge der Herren kommt unregelmäßig zu den Sitzungen, da ja so
zahlreiche Gelegenheiten vorhanden sind, Prinzipien zu erörtern und Amende-
ments zu stellen. Bei seinem Eintritts in das Haus blitzt vielleicht in dem Geiste
des Abgeordneten ein Gesichtspunkt auf, der ihm großartig erscheint, der aber
vorher schon ein halbes dutzendmal das Haus eingeschläfert hat, oder er stellt
ein Amendement, welches nach seiner Meinung unfehlbar die Gesellschaft retten
wird, von dessen Nutzlosigkeit man sich aber schon mehrmals überzeugt hat.
So werden kostbare Stunden und Tage verschwendet, die Arbeit rückt nicht von
der Stelle, am Ende der Session werden wichtige Vorlagen übers Knie gebrochen
und kommen als Gesetze in einer so unvollkommenen Gestalt zur Welt, daß der
Richter sie nicht anzuwenden weiß, dringende Vorlagen haben keine Aussicht,
überhaupt in das Haus eingebracht zu werden. Wohl denen, die überhaupt
begraben sind. Frederic Harrison geht darum in der Januarnummer des Mruz-
toontll 0"zntv.r^ scharf mit den Herren Parlamentsmitgliedern ins Gericht. Er
räth ihnen, das behagliche Sichgehenlassen aufzugeben, welches das Parlament
zu einem idealen Klub mache. Sie müßten wie die übrigen Menschen ernst und
tüchtig arbeiten, vor allem aber -- schweigen lernen.

Der Reformvorschläge zur Heilung dieser Leiden ist Legion. Die Einen wollen
den Anfang der Session in den November legen, um mehr Zeit zu gewinnen. Andre
wünschen Fixirung der Stufen, auf denen entweder die Prinzipien oder die einzelnen
Paragraphen der Vorlage zur Erörterung gelangen müssen. Noch andre schlagen
eine Einteilung des ganzen Hauses in große Ausschüsse vor, welche, zum Teil
aus Sachverständigen bestehend, fast in allen Füllen die Sitzungen des Hauses
als Komitee ersetzen würden. Die Ehre dieses letzteren Vorschlags gebührt Sir
T. Erskine May, welcher ihn seit mehr als 25 Jahren vertritt. Wieder andre
schlagen ein halbes Dutzend stündige Komitees vor, welche aus einer geringen
Anzahl vom Hause gewählter und mit den Vorlagen ihrer Abteilung berufs¬
mäßig bekannter Mitglieder bestehen sollen. Der Gedanke, welcher dem preu¬
ßischen Volkswirtschaftsrat und der Utopie einer Umbildung des staatsbürger¬
lichen Parlaments in ein berufsständisches zu Grunde liegt, der Gedanke, daß
unsre verwickelte Gesetzgebung größere Spezialkenntuisse verlangt, als Parlaments¬
mitglieder gewöhnlich besitzen, dieser Gedanke ist auch in England lebendig. Be¬
kanntlich ging John Se. Mill soweit, die eigentliche Gesetz"machung" auf einen
kleinen Kreis weiser Nomotheten zu beschränken und der Gesammtheit im wesent¬
lichen nur das Recht der Abstimmung oder Ablehnung der Vorlagen zu ver¬
leihen. Die Engländer sehen überhaupt nicht mehr so vornehm auf den Kon¬
tinent herab wie früher. Sie wollen zuweilen sogar etwas von ihm lernen. Man
blickt sehnsüchtig auf die scharfe kontinentale Scheidung von Gesetz und Ausfüh¬
rungsverordnung. Man erkennt, daß dieselbe das Parlament entlastet, weil es
nur die Grundzüge, die Prinzipien einer Maßregel zu beraten hat. Aber die


Die Reform des englischen Parlaments.

gewöhnlich nicht in der rauhen Wirklichkeit, sondern nur in des Ideales Reich.
Eine große Menge der Herren kommt unregelmäßig zu den Sitzungen, da ja so
zahlreiche Gelegenheiten vorhanden sind, Prinzipien zu erörtern und Amende-
ments zu stellen. Bei seinem Eintritts in das Haus blitzt vielleicht in dem Geiste
des Abgeordneten ein Gesichtspunkt auf, der ihm großartig erscheint, der aber
vorher schon ein halbes dutzendmal das Haus eingeschläfert hat, oder er stellt
ein Amendement, welches nach seiner Meinung unfehlbar die Gesellschaft retten
wird, von dessen Nutzlosigkeit man sich aber schon mehrmals überzeugt hat.
So werden kostbare Stunden und Tage verschwendet, die Arbeit rückt nicht von
der Stelle, am Ende der Session werden wichtige Vorlagen übers Knie gebrochen
und kommen als Gesetze in einer so unvollkommenen Gestalt zur Welt, daß der
Richter sie nicht anzuwenden weiß, dringende Vorlagen haben keine Aussicht,
überhaupt in das Haus eingebracht zu werden. Wohl denen, die überhaupt
begraben sind. Frederic Harrison geht darum in der Januarnummer des Mruz-
toontll 0«zntv.r^ scharf mit den Herren Parlamentsmitgliedern ins Gericht. Er
räth ihnen, das behagliche Sichgehenlassen aufzugeben, welches das Parlament
zu einem idealen Klub mache. Sie müßten wie die übrigen Menschen ernst und
tüchtig arbeiten, vor allem aber — schweigen lernen.

Der Reformvorschläge zur Heilung dieser Leiden ist Legion. Die Einen wollen
den Anfang der Session in den November legen, um mehr Zeit zu gewinnen. Andre
wünschen Fixirung der Stufen, auf denen entweder die Prinzipien oder die einzelnen
Paragraphen der Vorlage zur Erörterung gelangen müssen. Noch andre schlagen
eine Einteilung des ganzen Hauses in große Ausschüsse vor, welche, zum Teil
aus Sachverständigen bestehend, fast in allen Füllen die Sitzungen des Hauses
als Komitee ersetzen würden. Die Ehre dieses letzteren Vorschlags gebührt Sir
T. Erskine May, welcher ihn seit mehr als 25 Jahren vertritt. Wieder andre
schlagen ein halbes Dutzend stündige Komitees vor, welche aus einer geringen
Anzahl vom Hause gewählter und mit den Vorlagen ihrer Abteilung berufs¬
mäßig bekannter Mitglieder bestehen sollen. Der Gedanke, welcher dem preu¬
ßischen Volkswirtschaftsrat und der Utopie einer Umbildung des staatsbürger¬
lichen Parlaments in ein berufsständisches zu Grunde liegt, der Gedanke, daß
unsre verwickelte Gesetzgebung größere Spezialkenntuisse verlangt, als Parlaments¬
mitglieder gewöhnlich besitzen, dieser Gedanke ist auch in England lebendig. Be¬
kanntlich ging John Se. Mill soweit, die eigentliche Gesetz„machung" auf einen
kleinen Kreis weiser Nomotheten zu beschränken und der Gesammtheit im wesent¬
lichen nur das Recht der Abstimmung oder Ablehnung der Vorlagen zu ver¬
leihen. Die Engländer sehen überhaupt nicht mehr so vornehm auf den Kon¬
tinent herab wie früher. Sie wollen zuweilen sogar etwas von ihm lernen. Man
blickt sehnsüchtig auf die scharfe kontinentale Scheidung von Gesetz und Ausfüh¬
rungsverordnung. Man erkennt, daß dieselbe das Parlament entlastet, weil es
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[0165] Die Reform des englischen Parlaments. gewöhnlich nicht in der rauhen Wirklichkeit, sondern nur in des Ideales Reich. Eine große Menge der Herren kommt unregelmäßig zu den Sitzungen, da ja so zahlreiche Gelegenheiten vorhanden sind, Prinzipien zu erörtern und Amende- ments zu stellen. Bei seinem Eintritts in das Haus blitzt vielleicht in dem Geiste des Abgeordneten ein Gesichtspunkt auf, der ihm großartig erscheint, der aber vorher schon ein halbes dutzendmal das Haus eingeschläfert hat, oder er stellt ein Amendement, welches nach seiner Meinung unfehlbar die Gesellschaft retten wird, von dessen Nutzlosigkeit man sich aber schon mehrmals überzeugt hat. So werden kostbare Stunden und Tage verschwendet, die Arbeit rückt nicht von der Stelle, am Ende der Session werden wichtige Vorlagen übers Knie gebrochen und kommen als Gesetze in einer so unvollkommenen Gestalt zur Welt, daß der Richter sie nicht anzuwenden weiß, dringende Vorlagen haben keine Aussicht, überhaupt in das Haus eingebracht zu werden. Wohl denen, die überhaupt begraben sind. Frederic Harrison geht darum in der Januarnummer des Mruz- toontll 0«zntv.r^ scharf mit den Herren Parlamentsmitgliedern ins Gericht. Er räth ihnen, das behagliche Sichgehenlassen aufzugeben, welches das Parlament zu einem idealen Klub mache. Sie müßten wie die übrigen Menschen ernst und tüchtig arbeiten, vor allem aber — schweigen lernen. Der Reformvorschläge zur Heilung dieser Leiden ist Legion. Die Einen wollen den Anfang der Session in den November legen, um mehr Zeit zu gewinnen. Andre wünschen Fixirung der Stufen, auf denen entweder die Prinzipien oder die einzelnen Paragraphen der Vorlage zur Erörterung gelangen müssen. Noch andre schlagen eine Einteilung des ganzen Hauses in große Ausschüsse vor, welche, zum Teil aus Sachverständigen bestehend, fast in allen Füllen die Sitzungen des Hauses als Komitee ersetzen würden. Die Ehre dieses letzteren Vorschlags gebührt Sir T. Erskine May, welcher ihn seit mehr als 25 Jahren vertritt. Wieder andre schlagen ein halbes Dutzend stündige Komitees vor, welche aus einer geringen Anzahl vom Hause gewählter und mit den Vorlagen ihrer Abteilung berufs¬ mäßig bekannter Mitglieder bestehen sollen. Der Gedanke, welcher dem preu¬ ßischen Volkswirtschaftsrat und der Utopie einer Umbildung des staatsbürger¬ lichen Parlaments in ein berufsständisches zu Grunde liegt, der Gedanke, daß unsre verwickelte Gesetzgebung größere Spezialkenntuisse verlangt, als Parlaments¬ mitglieder gewöhnlich besitzen, dieser Gedanke ist auch in England lebendig. Be¬ kanntlich ging John Se. Mill soweit, die eigentliche Gesetz„machung" auf einen kleinen Kreis weiser Nomotheten zu beschränken und der Gesammtheit im wesent¬ lichen nur das Recht der Abstimmung oder Ablehnung der Vorlagen zu ver¬ leihen. Die Engländer sehen überhaupt nicht mehr so vornehm auf den Kon¬ tinent herab wie früher. Sie wollen zuweilen sogar etwas von ihm lernen. Man blickt sehnsüchtig auf die scharfe kontinentale Scheidung von Gesetz und Ausfüh¬ rungsverordnung. Man erkennt, daß dieselbe das Parlament entlastet, weil es nur die Grundzüge, die Prinzipien einer Maßregel zu beraten hat. Aber die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/165>, abgerufen am 17.06.2024.