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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Reform des englischen Parlaments.

Selbst konservative Staatsmänner müssen zugeben, daß die so verstandene
Avon-Unio nach englischen Anschauungen nichts Unbilliges verlangt. Denn die
Engländer haben oft genug versichert, daß die ganze Weisheit ihrer Staatsxin-
richtungen nicht auf kunstvollen Theorien und erhabenen Anschauungen beruhe,
sondern auf dem sehr gewöhnlichen Grundsatze des gesunden Menschenverstandes,
jeden seine Angelegenheit selbst besorgen zu lassen, weil er sie am besten selbst
verstände, woraus sich die Forderungen: Selbstverwaltung, parlamentarische
Regung, Dezentralisation, große Unabhängigkeit der Kolonien vom Mutterlande
und Unabhängigkeit der einzelnen Teile der Kolonien von einander von selbst
ergäben.

Kurz: die Uvah-Unke-Partei und ihre Anhänger wollen ans dem vereinigten
Königreich einen Bundesstaat machen, den sie für die höchste Staatsform halten.
Sie sehen in Deutschland, Österreich-Ungarn, der Schweiz und den Vereinigten
Staaten Nordamerikas die Verwirklichung ihres Ideals. Es ist nicht unwichtig,
diese Tendenz zu konstatiren. Noch vor zwanzig Jahren schien den europäischen
Politikern die Sehnsucht nach dem nationalen Einhcitsstacite ein charakteristisches
Merkmal des neunzehnten Jahrhunderts zu sein. Kaum hat sich die Bewegung
vollzogen, kann ist die Zeit unter Schlachtendvnner um uns vvrübcrgernnscht --
noch wetterleuchtet es in Italien, noch liegt die Balkanhalbinsel von der Geburt
nationaler Einheitsstaaten darnieder, noch geht der Osten mit neuen Reichen
schwanger, die sich von einander loslösend eng um das Heiligtum nationaler
Abkunft und Sprache drängen, und schon tritt der Bundesstaat deutlicher als
die höhere Form am politischen Horizonte hervor. Wird man dabei nicht an
den Dreischritt der Hegelschen Philosophie erinnert? Auf die Periode der um
das Herrscherhaus versammelten Staaten ohne nationales Gepräge folgt die
Besinnung auf Nation und Sprache, welche deu nationalen Einheitsstaat her¬
vortreibt. Als Synthese beider stellt sich der Bundesstaat dar, in welchem in¬
dividuelles Leben neben der Pflege gemeinsamer Interessen gedeiht.

Als gemeinsame Angelegenheiten des brittischen Reichstages würden Heer,
Flotte, Steuerwesen, Handelspolitik, Verträge aller Art gelten. Der Stoff
würde sich noch vermehren, wenn die höhere und würdigere Stellung, welche
geistvolle, aber vorläufig noch nicht zahlreiche Politiker dem noch unge-
borenen Reichstage zugedacht haben, eine vollendete Thatsache wäre. England
soll seine Kolonien näher mit sich verbinden, und Abgeordnete derselben sollen
in London mit den Vertretern des vereinigten Königreiches tagen. Dem Plane
mangelt es nicht an Großartigkeit. Ein Reichstag, der in allen fünf Erdteilen
schaltete und die Angelegenheiten eines Viertels der gesammten Menschheit zu
verwalten hätte, ist eine Phantasie, die man nicht in den Köpfen kühler Britten
vermuthen sollte.

Hat die Uoniö-Arno-Agitation indirekt auf die Fassung dieses gigantischen
Gedankens eingewirkt? Es sind keine genügenden Zeugnisse dafür vorhanden.


Grenzboten 1. 1882, 21
Die Reform des englischen Parlaments.

Selbst konservative Staatsmänner müssen zugeben, daß die so verstandene
Avon-Unio nach englischen Anschauungen nichts Unbilliges verlangt. Denn die
Engländer haben oft genug versichert, daß die ganze Weisheit ihrer Staatsxin-
richtungen nicht auf kunstvollen Theorien und erhabenen Anschauungen beruhe,
sondern auf dem sehr gewöhnlichen Grundsatze des gesunden Menschenverstandes,
jeden seine Angelegenheit selbst besorgen zu lassen, weil er sie am besten selbst
verstände, woraus sich die Forderungen: Selbstverwaltung, parlamentarische
Regung, Dezentralisation, große Unabhängigkeit der Kolonien vom Mutterlande
und Unabhängigkeit der einzelnen Teile der Kolonien von einander von selbst
ergäben.

Kurz: die Uvah-Unke-Partei und ihre Anhänger wollen ans dem vereinigten
Königreich einen Bundesstaat machen, den sie für die höchste Staatsform halten.
Sie sehen in Deutschland, Österreich-Ungarn, der Schweiz und den Vereinigten
Staaten Nordamerikas die Verwirklichung ihres Ideals. Es ist nicht unwichtig,
diese Tendenz zu konstatiren. Noch vor zwanzig Jahren schien den europäischen
Politikern die Sehnsucht nach dem nationalen Einhcitsstacite ein charakteristisches
Merkmal des neunzehnten Jahrhunderts zu sein. Kaum hat sich die Bewegung
vollzogen, kann ist die Zeit unter Schlachtendvnner um uns vvrübcrgernnscht —
noch wetterleuchtet es in Italien, noch liegt die Balkanhalbinsel von der Geburt
nationaler Einheitsstaaten darnieder, noch geht der Osten mit neuen Reichen
schwanger, die sich von einander loslösend eng um das Heiligtum nationaler
Abkunft und Sprache drängen, und schon tritt der Bundesstaat deutlicher als
die höhere Form am politischen Horizonte hervor. Wird man dabei nicht an
den Dreischritt der Hegelschen Philosophie erinnert? Auf die Periode der um
das Herrscherhaus versammelten Staaten ohne nationales Gepräge folgt die
Besinnung auf Nation und Sprache, welche deu nationalen Einheitsstaat her¬
vortreibt. Als Synthese beider stellt sich der Bundesstaat dar, in welchem in¬
dividuelles Leben neben der Pflege gemeinsamer Interessen gedeiht.

Als gemeinsame Angelegenheiten des brittischen Reichstages würden Heer,
Flotte, Steuerwesen, Handelspolitik, Verträge aller Art gelten. Der Stoff
würde sich noch vermehren, wenn die höhere und würdigere Stellung, welche
geistvolle, aber vorläufig noch nicht zahlreiche Politiker dem noch unge-
borenen Reichstage zugedacht haben, eine vollendete Thatsache wäre. England
soll seine Kolonien näher mit sich verbinden, und Abgeordnete derselben sollen
in London mit den Vertretern des vereinigten Königreiches tagen. Dem Plane
mangelt es nicht an Großartigkeit. Ein Reichstag, der in allen fünf Erdteilen
schaltete und die Angelegenheiten eines Viertels der gesammten Menschheit zu
verwalten hätte, ist eine Phantasie, die man nicht in den Köpfen kühler Britten
vermuthen sollte.

Hat die Uoniö-Arno-Agitation indirekt auf die Fassung dieses gigantischen
Gedankens eingewirkt? Es sind keine genügenden Zeugnisse dafür vorhanden.


Grenzboten 1. 1882, 21
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[0169] Die Reform des englischen Parlaments. Selbst konservative Staatsmänner müssen zugeben, daß die so verstandene Avon-Unio nach englischen Anschauungen nichts Unbilliges verlangt. Denn die Engländer haben oft genug versichert, daß die ganze Weisheit ihrer Staatsxin- richtungen nicht auf kunstvollen Theorien und erhabenen Anschauungen beruhe, sondern auf dem sehr gewöhnlichen Grundsatze des gesunden Menschenverstandes, jeden seine Angelegenheit selbst besorgen zu lassen, weil er sie am besten selbst verstände, woraus sich die Forderungen: Selbstverwaltung, parlamentarische Regung, Dezentralisation, große Unabhängigkeit der Kolonien vom Mutterlande und Unabhängigkeit der einzelnen Teile der Kolonien von einander von selbst ergäben. Kurz: die Uvah-Unke-Partei und ihre Anhänger wollen ans dem vereinigten Königreich einen Bundesstaat machen, den sie für die höchste Staatsform halten. Sie sehen in Deutschland, Österreich-Ungarn, der Schweiz und den Vereinigten Staaten Nordamerikas die Verwirklichung ihres Ideals. Es ist nicht unwichtig, diese Tendenz zu konstatiren. Noch vor zwanzig Jahren schien den europäischen Politikern die Sehnsucht nach dem nationalen Einhcitsstacite ein charakteristisches Merkmal des neunzehnten Jahrhunderts zu sein. Kaum hat sich die Bewegung vollzogen, kann ist die Zeit unter Schlachtendvnner um uns vvrübcrgernnscht — noch wetterleuchtet es in Italien, noch liegt die Balkanhalbinsel von der Geburt nationaler Einheitsstaaten darnieder, noch geht der Osten mit neuen Reichen schwanger, die sich von einander loslösend eng um das Heiligtum nationaler Abkunft und Sprache drängen, und schon tritt der Bundesstaat deutlicher als die höhere Form am politischen Horizonte hervor. Wird man dabei nicht an den Dreischritt der Hegelschen Philosophie erinnert? Auf die Periode der um das Herrscherhaus versammelten Staaten ohne nationales Gepräge folgt die Besinnung auf Nation und Sprache, welche deu nationalen Einheitsstaat her¬ vortreibt. Als Synthese beider stellt sich der Bundesstaat dar, in welchem in¬ dividuelles Leben neben der Pflege gemeinsamer Interessen gedeiht. Als gemeinsame Angelegenheiten des brittischen Reichstages würden Heer, Flotte, Steuerwesen, Handelspolitik, Verträge aller Art gelten. Der Stoff würde sich noch vermehren, wenn die höhere und würdigere Stellung, welche geistvolle, aber vorläufig noch nicht zahlreiche Politiker dem noch unge- borenen Reichstage zugedacht haben, eine vollendete Thatsache wäre. England soll seine Kolonien näher mit sich verbinden, und Abgeordnete derselben sollen in London mit den Vertretern des vereinigten Königreiches tagen. Dem Plane mangelt es nicht an Großartigkeit. Ein Reichstag, der in allen fünf Erdteilen schaltete und die Angelegenheiten eines Viertels der gesammten Menschheit zu verwalten hätte, ist eine Phantasie, die man nicht in den Köpfen kühler Britten vermuthen sollte. Hat die Uoniö-Arno-Agitation indirekt auf die Fassung dieses gigantischen Gedankens eingewirkt? Es sind keine genügenden Zeugnisse dafür vorhanden. Grenzboten 1. 1882, 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/169>, abgerufen am 17.06.2024.