Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Reform des englischen Parlaments.

Zu Tage treten zwei Quellen. Die Kolonien wünschten, entweder wie die spa¬
nischen oder französischen Kolonien im Parlamente vertreten zu sein. Man
will im Parlamente mitsprechen dürfen, weil die auswärtige Politik Englands
aller Wahrscheinlichkeit nach vcrhängnißv ollere Folgen für die Kolonien als für
das Mutterland haben werde. Canada z. B. behauptet uicht mit Unrecht, daß
es im Falle eines Krieges mit den Vereinigten Staaten Nordamerikas das
Schlachtfeld abgeben würde, obgleich es uicht die Macht habe, deu Krieg zu ver¬
hindern. Der entschiedenste Verfechter dieser Idee ist der frühere Gouverneur
von Neuseeland, Sir Julius Vogel. Die Bewegung wurde durch den Imperia¬
lismus der konservativen Partei unterstützt. Beaconssicld warf im Anfange der
siebziger Jahre der liberalen Kolonialpolitik vor, daß sie den Zusammenhang des
Mutterlandes und der Kolonien absichtlich gelockert habe. Er wünschte eine
nähere Verbindung der einzelnen Teile des brittischen Reiches. Die liberale
Partei leugnet, daß Mutterland und Kolonien gemeinsame Interessen haben, und
fürchtet, daß England von dem Eigennutze der Kolonisten, die sich schon durch
Schutzzölle von ihm abschließen, ausgebeutet werde" würde. Aus diesen Gründen
stemmt sie sich einer näheren Verbindung entgegen. In den Kreisen der eng¬
lischen Liberalen ist man merkwürdig kühl gegen den Kolonialbesitz. Die Kon¬
sequenteren befürworten eine starke Flotte, den Besitz der wichtigsten Handels¬
straßen und den Verzicht auf alle Kolonien. England soll allein und wird nach
ihrer Meinung sicherer durch überlegenem Handel und vollendete Industrie seinen
Reichtum vermehren und sich fremde Länder dienstbar machen, als wenn es
schwere Erziehungskosten für undankbare Kolonien bezahlt, die sofort, wenn sie
stark geworden sind, sich vom Mutterlande trennen. Gelangten die Pläne der
Imperialisten zur Ausführung, so würde, meint Lord Blachfvrd, in fünfzig
Jahren die Hauptstadt des brittischen Reiches von London nach Melbourne ver¬
legt werden müssen.

Die andre Quelle fließt aus volkswirtschaftlichen Betrachtungen. Englands
Manufakturen werden durch die kontinentale und nordamerikanische Schutzzoll¬
politik sehr geschädigt, während fremde Waaren unbeschränkt in England einge¬
führt werden dürfen. Sein schwer darniederliegender Ackerbau, welcher an dem
Wettbewerb Nordamerikas, an den Gesetzen über Vererbung und Pacht, sowie an den
hohen Kaufgebühreu tränkt, ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr zurückgegangen.
Der Auswanderungsstrom fließt zum geringsten Teile nach den englischen Kolonien.
Von 1815 bis 1880 verließen ungefähr 8 500 000 Menschen England. Bon diesen
wanderten beinahe sechs Millionen nach Nordamerika, waren also für das Mutter¬
land ganz verloren. Aber auch die Auswanderung nach den englischen Kolonien hat
nicht den erwarteten Nutzen. Sie verbilligt zwar die Preise für die Lebensmittel und
Rohmaterialien. Aber einerseits hat jede Auswanderung diese Wirkung, andrer¬
seits sieht die englische Landwirtschaft darin keinen Segen. Der Nutzen besteht
vielleicht darin, daß der Auswandrer englische Waaren kauft, wenn das Aus-


Die Reform des englischen Parlaments.

Zu Tage treten zwei Quellen. Die Kolonien wünschten, entweder wie die spa¬
nischen oder französischen Kolonien im Parlamente vertreten zu sein. Man
will im Parlamente mitsprechen dürfen, weil die auswärtige Politik Englands
aller Wahrscheinlichkeit nach vcrhängnißv ollere Folgen für die Kolonien als für
das Mutterland haben werde. Canada z. B. behauptet uicht mit Unrecht, daß
es im Falle eines Krieges mit den Vereinigten Staaten Nordamerikas das
Schlachtfeld abgeben würde, obgleich es uicht die Macht habe, deu Krieg zu ver¬
hindern. Der entschiedenste Verfechter dieser Idee ist der frühere Gouverneur
von Neuseeland, Sir Julius Vogel. Die Bewegung wurde durch den Imperia¬
lismus der konservativen Partei unterstützt. Beaconssicld warf im Anfange der
siebziger Jahre der liberalen Kolonialpolitik vor, daß sie den Zusammenhang des
Mutterlandes und der Kolonien absichtlich gelockert habe. Er wünschte eine
nähere Verbindung der einzelnen Teile des brittischen Reiches. Die liberale
Partei leugnet, daß Mutterland und Kolonien gemeinsame Interessen haben, und
fürchtet, daß England von dem Eigennutze der Kolonisten, die sich schon durch
Schutzzölle von ihm abschließen, ausgebeutet werde» würde. Aus diesen Gründen
stemmt sie sich einer näheren Verbindung entgegen. In den Kreisen der eng¬
lischen Liberalen ist man merkwürdig kühl gegen den Kolonialbesitz. Die Kon¬
sequenteren befürworten eine starke Flotte, den Besitz der wichtigsten Handels¬
straßen und den Verzicht auf alle Kolonien. England soll allein und wird nach
ihrer Meinung sicherer durch überlegenem Handel und vollendete Industrie seinen
Reichtum vermehren und sich fremde Länder dienstbar machen, als wenn es
schwere Erziehungskosten für undankbare Kolonien bezahlt, die sofort, wenn sie
stark geworden sind, sich vom Mutterlande trennen. Gelangten die Pläne der
Imperialisten zur Ausführung, so würde, meint Lord Blachfvrd, in fünfzig
Jahren die Hauptstadt des brittischen Reiches von London nach Melbourne ver¬
legt werden müssen.

Die andre Quelle fließt aus volkswirtschaftlichen Betrachtungen. Englands
Manufakturen werden durch die kontinentale und nordamerikanische Schutzzoll¬
politik sehr geschädigt, während fremde Waaren unbeschränkt in England einge¬
führt werden dürfen. Sein schwer darniederliegender Ackerbau, welcher an dem
Wettbewerb Nordamerikas, an den Gesetzen über Vererbung und Pacht, sowie an den
hohen Kaufgebühreu tränkt, ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr zurückgegangen.
Der Auswanderungsstrom fließt zum geringsten Teile nach den englischen Kolonien.
Von 1815 bis 1880 verließen ungefähr 8 500 000 Menschen England. Bon diesen
wanderten beinahe sechs Millionen nach Nordamerika, waren also für das Mutter¬
land ganz verloren. Aber auch die Auswanderung nach den englischen Kolonien hat
nicht den erwarteten Nutzen. Sie verbilligt zwar die Preise für die Lebensmittel und
Rohmaterialien. Aber einerseits hat jede Auswanderung diese Wirkung, andrer¬
seits sieht die englische Landwirtschaft darin keinen Segen. Der Nutzen besteht
vielleicht darin, daß der Auswandrer englische Waaren kauft, wenn das Aus-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86291"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Reform des englischen Parlaments.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_699" prev="#ID_698"> Zu Tage treten zwei Quellen. Die Kolonien wünschten, entweder wie die spa¬<lb/>
nischen oder französischen Kolonien im Parlamente vertreten zu sein. Man<lb/>
will im Parlamente mitsprechen dürfen, weil die auswärtige Politik Englands<lb/>
aller Wahrscheinlichkeit nach vcrhängnißv ollere Folgen für die Kolonien als für<lb/>
das Mutterland haben werde. Canada z. B. behauptet uicht mit Unrecht, daß<lb/>
es im Falle eines Krieges mit den Vereinigten Staaten Nordamerikas das<lb/>
Schlachtfeld abgeben würde, obgleich es uicht die Macht habe, deu Krieg zu ver¬<lb/>
hindern. Der entschiedenste Verfechter dieser Idee ist der frühere Gouverneur<lb/>
von Neuseeland, Sir Julius Vogel. Die Bewegung wurde durch den Imperia¬<lb/>
lismus der konservativen Partei unterstützt. Beaconssicld warf im Anfange der<lb/>
siebziger Jahre der liberalen Kolonialpolitik vor, daß sie den Zusammenhang des<lb/>
Mutterlandes und der Kolonien absichtlich gelockert habe. Er wünschte eine<lb/>
nähere Verbindung der einzelnen Teile des brittischen Reiches. Die liberale<lb/>
Partei leugnet, daß Mutterland und Kolonien gemeinsame Interessen haben, und<lb/>
fürchtet, daß England von dem Eigennutze der Kolonisten, die sich schon durch<lb/>
Schutzzölle von ihm abschließen, ausgebeutet werde» würde. Aus diesen Gründen<lb/>
stemmt sie sich einer näheren Verbindung entgegen. In den Kreisen der eng¬<lb/>
lischen Liberalen ist man merkwürdig kühl gegen den Kolonialbesitz. Die Kon¬<lb/>
sequenteren befürworten eine starke Flotte, den Besitz der wichtigsten Handels¬<lb/>
straßen und den Verzicht auf alle Kolonien. England soll allein und wird nach<lb/>
ihrer Meinung sicherer durch überlegenem Handel und vollendete Industrie seinen<lb/>
Reichtum vermehren und sich fremde Länder dienstbar machen, als wenn es<lb/>
schwere Erziehungskosten für undankbare Kolonien bezahlt, die sofort, wenn sie<lb/>
stark geworden sind, sich vom Mutterlande trennen. Gelangten die Pläne der<lb/>
Imperialisten zur Ausführung, so würde, meint Lord Blachfvrd, in fünfzig<lb/>
Jahren die Hauptstadt des brittischen Reiches von London nach Melbourne ver¬<lb/>
legt werden müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_700" next="#ID_701"> Die andre Quelle fließt aus volkswirtschaftlichen Betrachtungen. Englands<lb/>
Manufakturen werden durch die kontinentale und nordamerikanische Schutzzoll¬<lb/>
politik sehr geschädigt, während fremde Waaren unbeschränkt in England einge¬<lb/>
führt werden dürfen. Sein schwer darniederliegender Ackerbau, welcher an dem<lb/>
Wettbewerb Nordamerikas, an den Gesetzen über Vererbung und Pacht, sowie an den<lb/>
hohen Kaufgebühreu tränkt, ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr zurückgegangen.<lb/>
Der Auswanderungsstrom fließt zum geringsten Teile nach den englischen Kolonien.<lb/>
Von 1815 bis 1880 verließen ungefähr 8 500 000 Menschen England. Bon diesen<lb/>
wanderten beinahe sechs Millionen nach Nordamerika, waren also für das Mutter¬<lb/>
land ganz verloren. Aber auch die Auswanderung nach den englischen Kolonien hat<lb/>
nicht den erwarteten Nutzen. Sie verbilligt zwar die Preise für die Lebensmittel und<lb/>
Rohmaterialien. Aber einerseits hat jede Auswanderung diese Wirkung, andrer¬<lb/>
seits sieht die englische Landwirtschaft darin keinen Segen. Der Nutzen besteht<lb/>
vielleicht darin, daß der Auswandrer englische Waaren kauft, wenn das Aus-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0170] Die Reform des englischen Parlaments. Zu Tage treten zwei Quellen. Die Kolonien wünschten, entweder wie die spa¬ nischen oder französischen Kolonien im Parlamente vertreten zu sein. Man will im Parlamente mitsprechen dürfen, weil die auswärtige Politik Englands aller Wahrscheinlichkeit nach vcrhängnißv ollere Folgen für die Kolonien als für das Mutterland haben werde. Canada z. B. behauptet uicht mit Unrecht, daß es im Falle eines Krieges mit den Vereinigten Staaten Nordamerikas das Schlachtfeld abgeben würde, obgleich es uicht die Macht habe, deu Krieg zu ver¬ hindern. Der entschiedenste Verfechter dieser Idee ist der frühere Gouverneur von Neuseeland, Sir Julius Vogel. Die Bewegung wurde durch den Imperia¬ lismus der konservativen Partei unterstützt. Beaconssicld warf im Anfange der siebziger Jahre der liberalen Kolonialpolitik vor, daß sie den Zusammenhang des Mutterlandes und der Kolonien absichtlich gelockert habe. Er wünschte eine nähere Verbindung der einzelnen Teile des brittischen Reiches. Die liberale Partei leugnet, daß Mutterland und Kolonien gemeinsame Interessen haben, und fürchtet, daß England von dem Eigennutze der Kolonisten, die sich schon durch Schutzzölle von ihm abschließen, ausgebeutet werde» würde. Aus diesen Gründen stemmt sie sich einer näheren Verbindung entgegen. In den Kreisen der eng¬ lischen Liberalen ist man merkwürdig kühl gegen den Kolonialbesitz. Die Kon¬ sequenteren befürworten eine starke Flotte, den Besitz der wichtigsten Handels¬ straßen und den Verzicht auf alle Kolonien. England soll allein und wird nach ihrer Meinung sicherer durch überlegenem Handel und vollendete Industrie seinen Reichtum vermehren und sich fremde Länder dienstbar machen, als wenn es schwere Erziehungskosten für undankbare Kolonien bezahlt, die sofort, wenn sie stark geworden sind, sich vom Mutterlande trennen. Gelangten die Pläne der Imperialisten zur Ausführung, so würde, meint Lord Blachfvrd, in fünfzig Jahren die Hauptstadt des brittischen Reiches von London nach Melbourne ver¬ legt werden müssen. Die andre Quelle fließt aus volkswirtschaftlichen Betrachtungen. Englands Manufakturen werden durch die kontinentale und nordamerikanische Schutzzoll¬ politik sehr geschädigt, während fremde Waaren unbeschränkt in England einge¬ führt werden dürfen. Sein schwer darniederliegender Ackerbau, welcher an dem Wettbewerb Nordamerikas, an den Gesetzen über Vererbung und Pacht, sowie an den hohen Kaufgebühreu tränkt, ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr zurückgegangen. Der Auswanderungsstrom fließt zum geringsten Teile nach den englischen Kolonien. Von 1815 bis 1880 verließen ungefähr 8 500 000 Menschen England. Bon diesen wanderten beinahe sechs Millionen nach Nordamerika, waren also für das Mutter¬ land ganz verloren. Aber auch die Auswanderung nach den englischen Kolonien hat nicht den erwarteten Nutzen. Sie verbilligt zwar die Preise für die Lebensmittel und Rohmaterialien. Aber einerseits hat jede Auswanderung diese Wirkung, andrer¬ seits sieht die englische Landwirtschaft darin keinen Segen. Der Nutzen besteht vielleicht darin, daß der Auswandrer englische Waaren kauft, wenn das Aus-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/170
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/170>, abgerufen am 17.06.2024.