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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Briefe eines Unbekannten.

Millionen Thaler an die Franzosen ausgezahlt. Später hat sich -- zurück¬
gezahlt wurde die Schuld nie -- herausgestellt, daß Napoleon nur zwei Mil¬
lionen Francs begehrt hatte. In der Eile war aber nur von ctsux inMon8
die Rede gewesen." Für die politische Anschanung in dieser an sich ganz hübschen
Anekdote finden wir kein Wort. Über die sächsische Frage von 1815 mag man
denken, wie man will. Aber die glorreiche Erhebung des Jahres 1813 mit den
Worten "seinem besiegten Bundesgenossen in den Rücken fallen" zu beschimpfen,
ist mehr, als in Deutschland selbst einem französischen Enngrantennachkömmling
gestattet sein sollte!

Doch wir haben es hier mit den zahlreichen Aussprüchen, zum Teil flüch¬
tigen, zum Teil eingehenden Kritiken über Literatur und vor allem über zeit¬
genössische Literatur zu thun. Und da sind denn die "Briefe eines Unbekannten"
im höchsten Grade lehrreich, insofern sie zeigen, von welchen Zufällen, Gewohn¬
heiten und Instinkten auch der Gebildetsten im Publikum der Erfolg und Mi߬
erfolg neuer Werke und namentlich neuer Dichtungen abhängig ist. Herr
von Villers hegt keineswegs eine Anschauung, welche ihn von vornherein feind¬
selig gegen die Literatur der Gegenwart stimmt. Bei aller Verehrung für
Goethe und Schiller (der letztern leiht er oft Worte und einmal -- S. 304 --
ganz prächtigen Ausdruck) ist er empfänglich für neue Produktionen. Aber er
leidet an dem schlimmsten, was sich einem Kritiker nachsagen läßt: man kann
nicht im voraus bestimmen, wie sein Urteil über ein Buch, ein Gedicht, ein
Bild lauten wird. An vielen seiner Urteile kann man Freude haben. Die Be¬
wunderung und die seine Charakteristik vou Freytags "Soll und Haben" (S. 48),
der frische Enthusiasmus für Scheffels "Gaudeamus" (S. 67), die mehrfach
betonte seine Mitempfindung für Hehses innere Poesie und sein echtes Künstler¬
naturen, der Blick für den besondern Reiz einzelner erzählenden Dichtungen
Otto Noquettes (S. 289), die Freude an ernsten Büchern wie Julius Brauns
"Historischen Lcuidschafteu," Hübners "Papst Sixtus V." und Hettncrs "Lite-
raturgeschichte des 18, Jahrhunderts" erwecken den Glauben, daß wir es hier
mit einem durchgebildeten Geschmack, einer in sich abgeschlossenen Anschauung
zu thun hätten. Auch einzelne der verurteilenden Kritiken bestärken uns in
diesem Glauben. Mail lese z. V. die feinen Bemerkungen über die Totalität
von Viktor Hugos Dichtererscheiuuug (S. 78 u. f.) oder die kurze humoristische
Charakteristik des Stils der Temmcschen Kriminalromane (S. 282).

Bedenklicher stellt sich aber schon die Sache, wenn unser Leser mit sub¬
jektivster Sicherheit alles, was ihm nicht gefällt, schlechthin für unmöglich und
wertlos erklärt. Ueber Kiugslchs "Hhpatia" heißt es wörtlich: "Ich weiß
geradezu gar nicht, was ich gelesen habe, es waren Buchstaben und Worte, wie
in andern Büchern, was sie bedeuten, vermöchte ich nicht zu sagen. Das ganze
Buch vou der Hypatia ist für mich ein Feuerstein, den ich noch nicht gesehen
habe. Ich kaun das nicht denken. Das Buch ist mir ein Haufen von Glied-


Briefe eines Unbekannten.

Millionen Thaler an die Franzosen ausgezahlt. Später hat sich — zurück¬
gezahlt wurde die Schuld nie — herausgestellt, daß Napoleon nur zwei Mil¬
lionen Francs begehrt hatte. In der Eile war aber nur von ctsux inMon8
die Rede gewesen." Für die politische Anschanung in dieser an sich ganz hübschen
Anekdote finden wir kein Wort. Über die sächsische Frage von 1815 mag man
denken, wie man will. Aber die glorreiche Erhebung des Jahres 1813 mit den
Worten „seinem besiegten Bundesgenossen in den Rücken fallen" zu beschimpfen,
ist mehr, als in Deutschland selbst einem französischen Enngrantennachkömmling
gestattet sein sollte!

Doch wir haben es hier mit den zahlreichen Aussprüchen, zum Teil flüch¬
tigen, zum Teil eingehenden Kritiken über Literatur und vor allem über zeit¬
genössische Literatur zu thun. Und da sind denn die „Briefe eines Unbekannten"
im höchsten Grade lehrreich, insofern sie zeigen, von welchen Zufällen, Gewohn¬
heiten und Instinkten auch der Gebildetsten im Publikum der Erfolg und Mi߬
erfolg neuer Werke und namentlich neuer Dichtungen abhängig ist. Herr
von Villers hegt keineswegs eine Anschauung, welche ihn von vornherein feind¬
selig gegen die Literatur der Gegenwart stimmt. Bei aller Verehrung für
Goethe und Schiller (der letztern leiht er oft Worte und einmal — S. 304 —
ganz prächtigen Ausdruck) ist er empfänglich für neue Produktionen. Aber er
leidet an dem schlimmsten, was sich einem Kritiker nachsagen läßt: man kann
nicht im voraus bestimmen, wie sein Urteil über ein Buch, ein Gedicht, ein
Bild lauten wird. An vielen seiner Urteile kann man Freude haben. Die Be¬
wunderung und die seine Charakteristik vou Freytags „Soll und Haben" (S. 48),
der frische Enthusiasmus für Scheffels „Gaudeamus" (S. 67), die mehrfach
betonte seine Mitempfindung für Hehses innere Poesie und sein echtes Künstler¬
naturen, der Blick für den besondern Reiz einzelner erzählenden Dichtungen
Otto Noquettes (S. 289), die Freude an ernsten Büchern wie Julius Brauns
„Historischen Lcuidschafteu," Hübners „Papst Sixtus V." und Hettncrs „Lite-
raturgeschichte des 18, Jahrhunderts" erwecken den Glauben, daß wir es hier
mit einem durchgebildeten Geschmack, einer in sich abgeschlossenen Anschauung
zu thun hätten. Auch einzelne der verurteilenden Kritiken bestärken uns in
diesem Glauben. Mail lese z. V. die feinen Bemerkungen über die Totalität
von Viktor Hugos Dichtererscheiuuug (S. 78 u. f.) oder die kurze humoristische
Charakteristik des Stils der Temmcschen Kriminalromane (S. 282).

Bedenklicher stellt sich aber schon die Sache, wenn unser Leser mit sub¬
jektivster Sicherheit alles, was ihm nicht gefällt, schlechthin für unmöglich und
wertlos erklärt. Ueber Kiugslchs „Hhpatia" heißt es wörtlich: „Ich weiß
geradezu gar nicht, was ich gelesen habe, es waren Buchstaben und Worte, wie
in andern Büchern, was sie bedeuten, vermöchte ich nicht zu sagen. Das ganze
Buch vou der Hypatia ist für mich ein Feuerstein, den ich noch nicht gesehen
habe. Ich kaun das nicht denken. Das Buch ist mir ein Haufen von Glied-


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[0191] Briefe eines Unbekannten. Millionen Thaler an die Franzosen ausgezahlt. Später hat sich — zurück¬ gezahlt wurde die Schuld nie — herausgestellt, daß Napoleon nur zwei Mil¬ lionen Francs begehrt hatte. In der Eile war aber nur von ctsux inMon8 die Rede gewesen." Für die politische Anschanung in dieser an sich ganz hübschen Anekdote finden wir kein Wort. Über die sächsische Frage von 1815 mag man denken, wie man will. Aber die glorreiche Erhebung des Jahres 1813 mit den Worten „seinem besiegten Bundesgenossen in den Rücken fallen" zu beschimpfen, ist mehr, als in Deutschland selbst einem französischen Enngrantennachkömmling gestattet sein sollte! Doch wir haben es hier mit den zahlreichen Aussprüchen, zum Teil flüch¬ tigen, zum Teil eingehenden Kritiken über Literatur und vor allem über zeit¬ genössische Literatur zu thun. Und da sind denn die „Briefe eines Unbekannten" im höchsten Grade lehrreich, insofern sie zeigen, von welchen Zufällen, Gewohn¬ heiten und Instinkten auch der Gebildetsten im Publikum der Erfolg und Mi߬ erfolg neuer Werke und namentlich neuer Dichtungen abhängig ist. Herr von Villers hegt keineswegs eine Anschauung, welche ihn von vornherein feind¬ selig gegen die Literatur der Gegenwart stimmt. Bei aller Verehrung für Goethe und Schiller (der letztern leiht er oft Worte und einmal — S. 304 — ganz prächtigen Ausdruck) ist er empfänglich für neue Produktionen. Aber er leidet an dem schlimmsten, was sich einem Kritiker nachsagen läßt: man kann nicht im voraus bestimmen, wie sein Urteil über ein Buch, ein Gedicht, ein Bild lauten wird. An vielen seiner Urteile kann man Freude haben. Die Be¬ wunderung und die seine Charakteristik vou Freytags „Soll und Haben" (S. 48), der frische Enthusiasmus für Scheffels „Gaudeamus" (S. 67), die mehrfach betonte seine Mitempfindung für Hehses innere Poesie und sein echtes Künstler¬ naturen, der Blick für den besondern Reiz einzelner erzählenden Dichtungen Otto Noquettes (S. 289), die Freude an ernsten Büchern wie Julius Brauns „Historischen Lcuidschafteu," Hübners „Papst Sixtus V." und Hettncrs „Lite- raturgeschichte des 18, Jahrhunderts" erwecken den Glauben, daß wir es hier mit einem durchgebildeten Geschmack, einer in sich abgeschlossenen Anschauung zu thun hätten. Auch einzelne der verurteilenden Kritiken bestärken uns in diesem Glauben. Mail lese z. V. die feinen Bemerkungen über die Totalität von Viktor Hugos Dichtererscheiuuug (S. 78 u. f.) oder die kurze humoristische Charakteristik des Stils der Temmcschen Kriminalromane (S. 282). Bedenklicher stellt sich aber schon die Sache, wenn unser Leser mit sub¬ jektivster Sicherheit alles, was ihm nicht gefällt, schlechthin für unmöglich und wertlos erklärt. Ueber Kiugslchs „Hhpatia" heißt es wörtlich: „Ich weiß geradezu gar nicht, was ich gelesen habe, es waren Buchstaben und Worte, wie in andern Büchern, was sie bedeuten, vermöchte ich nicht zu sagen. Das ganze Buch vou der Hypatia ist für mich ein Feuerstein, den ich noch nicht gesehen habe. Ich kaun das nicht denken. Das Buch ist mir ein Haufen von Glied-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/191>, abgerufen am 17.06.2024.