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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Briefe eines Unbekannten,

haben, die Auswahl der "würdig" zu malenden Zeitalter und Sitten vorbehalte"
will. Die höchsten Vorzüge Shakespeares, Goethes, ja selbst Schillers, können
hiernach dem "Unbekannten" gar nicht aufgegangen sein. Es ist das Recht des
Dichters, auch den freigewählten Hintergrund mit allem Glanz und Reiz aus¬
zustatten, es ist ein Triumph Shakespeares, wenn wir, auch ohne die Mcininger
und bei der dürftigsten Ausstattung, im "Kaufmann von Venedig" und im "Othello"
die Lagunen- und Dogenstadt vor unserm inneren Auge erblicken; aber die Absicht
des echten Dichters war nie, einen Hintergrund zu malen. Was unser Vuchschreiber
das gleichgiltige "eine Episode, Ums immer" nennt, die Handlung mit den sie
tragenden und entwickelnden Gestalten, bleibt in aller Poesie die Hauptsache.
Es würde schwer zu begreifen sein, wie so widersprechende, einander gründlich
aufhebende Forderungen, als die zwei angeführten Sätze.enthalten, in einem ge-
bildeten Geiste überhaupt entstehen könnten, wenn es nicht innerhalb seiner Briefe
einen ganz einfachen Schlüssel für dergleichen Widersprüche gäbe. "Ich kann
nicht lange mit jemand sprechen, der ein scharf klingendes oder kratzendes Organ
hat. Unglücklicherweise wirkt anch geschriebener Stil auf mein Gehör und es
giebt Bücher, die so laut schreien, daß ich sie zumachen muß" (S. 258) Herr
von Villers gehörte zu jeuer zahlreichen Klasse feingebildeter Leser, deren Anteil
an der Kunst eigentlich nie liber den "Stil," über die Vortragsweise der poetischen
Dinge zum Kern dieser Dinge durchdringt. Hier mag das französische Blut in
ihm nachgewirkt haben.

Eine andre Gattung von Urteilen erklärt sich ans persönlichen Beziehungen
und aristokratischen Empfindlichkeiten. Durch das ganze Buch zieht sich eine merk¬
würdige Feindseligkeit gegen den spezifisch österreichischen Dichter, gegen Grill-
parzer, der, von allem andern abgesehen, speziell als Sprachbarbar und Sprach-
verderber charakterisirt wird. Hierfür vermögen wir keine irgendwie ästhetische
oder literarische Erklärung zu finden, denn Grillparzer müßte, aus hundert
Gründen, recht eigentlich der Dichter nach dem Herzen unsers "Unbekannten" sein.
Aber vielleicht stand der Schöpfer der "Sappho" und "Medea" bei der kleinen
aristokratischen Koterie schlecht angeschrieben, an welche Herr von Villers durch
Neigung und Gewohnheit gebunden war, vielleicht verzieh man ihm seinen Sitz
im österreichischen Herrenhaus".' nicht oder was sonst für Gründe obgewaltet haben
mögen.

In einem zweiten Falle verwunderlichen Urteils liegt der Beweggrund des
Kritikers offener vor Augen. Eine Blüte unsrer novellistischen Literatur, die
Prachterzähluug Gottfried Kellers, "Romeo und Julie," wird in einer lange"
Kritik unbarmherzig zerpflückt und in den Schmutz getreten. Daß die Liebenden
vom Dorfe etwas wie Ehre, wie tiefe Abneigung gegen den gemeine" Lauf
der Welt in sich verspüren, dünkt unserm aristokratischen Leser unerträglich, er
kaum aus der entzückenden tragische" Erzählung nichts andres Heranslesen als
"nur ein Motiv: Widerwille gegen Prüfungen, gegen Ausdauer, gegen Arbeit, nach


Grenzboren 1. 18W, 24
Briefe eines Unbekannten,

haben, die Auswahl der „würdig" zu malenden Zeitalter und Sitten vorbehalte»
will. Die höchsten Vorzüge Shakespeares, Goethes, ja selbst Schillers, können
hiernach dem „Unbekannten" gar nicht aufgegangen sein. Es ist das Recht des
Dichters, auch den freigewählten Hintergrund mit allem Glanz und Reiz aus¬
zustatten, es ist ein Triumph Shakespeares, wenn wir, auch ohne die Mcininger
und bei der dürftigsten Ausstattung, im „Kaufmann von Venedig" und im „Othello"
die Lagunen- und Dogenstadt vor unserm inneren Auge erblicken; aber die Absicht
des echten Dichters war nie, einen Hintergrund zu malen. Was unser Vuchschreiber
das gleichgiltige „eine Episode, Ums immer" nennt, die Handlung mit den sie
tragenden und entwickelnden Gestalten, bleibt in aller Poesie die Hauptsache.
Es würde schwer zu begreifen sein, wie so widersprechende, einander gründlich
aufhebende Forderungen, als die zwei angeführten Sätze.enthalten, in einem ge-
bildeten Geiste überhaupt entstehen könnten, wenn es nicht innerhalb seiner Briefe
einen ganz einfachen Schlüssel für dergleichen Widersprüche gäbe. „Ich kann
nicht lange mit jemand sprechen, der ein scharf klingendes oder kratzendes Organ
hat. Unglücklicherweise wirkt anch geschriebener Stil auf mein Gehör und es
giebt Bücher, die so laut schreien, daß ich sie zumachen muß" (S. 258) Herr
von Villers gehörte zu jeuer zahlreichen Klasse feingebildeter Leser, deren Anteil
an der Kunst eigentlich nie liber den „Stil," über die Vortragsweise der poetischen
Dinge zum Kern dieser Dinge durchdringt. Hier mag das französische Blut in
ihm nachgewirkt haben.

Eine andre Gattung von Urteilen erklärt sich ans persönlichen Beziehungen
und aristokratischen Empfindlichkeiten. Durch das ganze Buch zieht sich eine merk¬
würdige Feindseligkeit gegen den spezifisch österreichischen Dichter, gegen Grill-
parzer, der, von allem andern abgesehen, speziell als Sprachbarbar und Sprach-
verderber charakterisirt wird. Hierfür vermögen wir keine irgendwie ästhetische
oder literarische Erklärung zu finden, denn Grillparzer müßte, aus hundert
Gründen, recht eigentlich der Dichter nach dem Herzen unsers „Unbekannten" sein.
Aber vielleicht stand der Schöpfer der „Sappho" und „Medea" bei der kleinen
aristokratischen Koterie schlecht angeschrieben, an welche Herr von Villers durch
Neigung und Gewohnheit gebunden war, vielleicht verzieh man ihm seinen Sitz
im österreichischen Herrenhaus«.' nicht oder was sonst für Gründe obgewaltet haben
mögen.

In einem zweiten Falle verwunderlichen Urteils liegt der Beweggrund des
Kritikers offener vor Augen. Eine Blüte unsrer novellistischen Literatur, die
Prachterzähluug Gottfried Kellers, „Romeo und Julie," wird in einer lange»
Kritik unbarmherzig zerpflückt und in den Schmutz getreten. Daß die Liebenden
vom Dorfe etwas wie Ehre, wie tiefe Abneigung gegen den gemeine» Lauf
der Welt in sich verspüren, dünkt unserm aristokratischen Leser unerträglich, er
kaum aus der entzückenden tragische» Erzählung nichts andres Heranslesen als
„nur ein Motiv: Widerwille gegen Prüfungen, gegen Ausdauer, gegen Arbeit, nach


Grenzboren 1. 18W, 24
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[0193] Briefe eines Unbekannten, haben, die Auswahl der „würdig" zu malenden Zeitalter und Sitten vorbehalte» will. Die höchsten Vorzüge Shakespeares, Goethes, ja selbst Schillers, können hiernach dem „Unbekannten" gar nicht aufgegangen sein. Es ist das Recht des Dichters, auch den freigewählten Hintergrund mit allem Glanz und Reiz aus¬ zustatten, es ist ein Triumph Shakespeares, wenn wir, auch ohne die Mcininger und bei der dürftigsten Ausstattung, im „Kaufmann von Venedig" und im „Othello" die Lagunen- und Dogenstadt vor unserm inneren Auge erblicken; aber die Absicht des echten Dichters war nie, einen Hintergrund zu malen. Was unser Vuchschreiber das gleichgiltige „eine Episode, Ums immer" nennt, die Handlung mit den sie tragenden und entwickelnden Gestalten, bleibt in aller Poesie die Hauptsache. Es würde schwer zu begreifen sein, wie so widersprechende, einander gründlich aufhebende Forderungen, als die zwei angeführten Sätze.enthalten, in einem ge- bildeten Geiste überhaupt entstehen könnten, wenn es nicht innerhalb seiner Briefe einen ganz einfachen Schlüssel für dergleichen Widersprüche gäbe. „Ich kann nicht lange mit jemand sprechen, der ein scharf klingendes oder kratzendes Organ hat. Unglücklicherweise wirkt anch geschriebener Stil auf mein Gehör und es giebt Bücher, die so laut schreien, daß ich sie zumachen muß" (S. 258) Herr von Villers gehörte zu jeuer zahlreichen Klasse feingebildeter Leser, deren Anteil an der Kunst eigentlich nie liber den „Stil," über die Vortragsweise der poetischen Dinge zum Kern dieser Dinge durchdringt. Hier mag das französische Blut in ihm nachgewirkt haben. Eine andre Gattung von Urteilen erklärt sich ans persönlichen Beziehungen und aristokratischen Empfindlichkeiten. Durch das ganze Buch zieht sich eine merk¬ würdige Feindseligkeit gegen den spezifisch österreichischen Dichter, gegen Grill- parzer, der, von allem andern abgesehen, speziell als Sprachbarbar und Sprach- verderber charakterisirt wird. Hierfür vermögen wir keine irgendwie ästhetische oder literarische Erklärung zu finden, denn Grillparzer müßte, aus hundert Gründen, recht eigentlich der Dichter nach dem Herzen unsers „Unbekannten" sein. Aber vielleicht stand der Schöpfer der „Sappho" und „Medea" bei der kleinen aristokratischen Koterie schlecht angeschrieben, an welche Herr von Villers durch Neigung und Gewohnheit gebunden war, vielleicht verzieh man ihm seinen Sitz im österreichischen Herrenhaus«.' nicht oder was sonst für Gründe obgewaltet haben mögen. In einem zweiten Falle verwunderlichen Urteils liegt der Beweggrund des Kritikers offener vor Augen. Eine Blüte unsrer novellistischen Literatur, die Prachterzähluug Gottfried Kellers, „Romeo und Julie," wird in einer lange» Kritik unbarmherzig zerpflückt und in den Schmutz getreten. Daß die Liebenden vom Dorfe etwas wie Ehre, wie tiefe Abneigung gegen den gemeine» Lauf der Welt in sich verspüren, dünkt unserm aristokratischen Leser unerträglich, er kaum aus der entzückenden tragische» Erzählung nichts andres Heranslesen als „nur ein Motiv: Widerwille gegen Prüfungen, gegen Ausdauer, gegen Arbeit, nach Grenzboren 1. 18W, 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/193>, abgerufen am 17.06.2024.